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PolitikDie Lücken werden nicht geschlossen

Baden-Württemberg könnte mindestens 700 Millionen Euro im Jahr sparen, wenn es ausreichend und ordentlich finanzierte Frauen- und Kinderschutzhäuser gäbe. Die SPD hat dazu einen Gesetzentwurf eingebracht, aber Grün-Schwarz drückt sich. Ausgerechnet am 8. März.

Verantwortung wird hin- und hergeschoben, meint Melanie Moll, Verein „Frauen helfen Frauen“. Foto: Jens Volle

Von Johanna Henkel-Waidhofer↓

Das Wetter passte zum traurigen Thema. Im Regen demonstrierten Frauen aus der ganzen Republik am 7. März in Berlin für viel mehr Engagement im Kampf gegen Gewalt in Familien und für die Umsetzung der 2017 von Deutschland ratifizierten Istanbul-Konvention, jenes Übereinkommens im Europarat zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Bundesweit war an 303 Tagen im Jahr 2022 wegen Überfüllung keine Aufnahme in einer Schutzeinrichtung möglich. Allein in Baden-Württemberg fehlen bis zu 2.000 Plätze, weil nicht genügend Geld im System ist. Und dabei soll es vorerst sogar bleiben.

„Diese Lücken können Leben kosten“, sagt Melanie Moll vom Verein „Frauen helfen Frauen“ in Stuttgart. Seit mehr als zehn Jahren wird um den Ausbau des Angebots gerungen, um Schutzwohnungen und einen neuen Standort. Ein Haus würde geschätzt 17 Millionen Euro kosten. Seit Kurzem gibt es eine Grundsatzeinigung mit der Stadt Stuttgart, auf Schiene ist der Bau damit aber noch lange nicht. „Zeitnah“, verspricht Finanzbürgermeister Thomas Fuhrmann, werde die Verwaltung dem Gemeinderat einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen machen. Möglich, dass es Geld vom Land gibt, weil Grün-Schwarz sich an Investitionen beteiligt; jedoch nur mit bescheidenen 3,3 Millionen Euro landesweit pro Jahr.

Land verstößt gegen Istanbul-Konvention

In der vergangenen Woche gab es im Landtag eine Anhörung zur Unterversorgung mit Schutzeinrichtungen im Land und dem stockenden Engagement gegen Männergewalt. Alle Sachverständigen appellieren an die Regierungsfraktionen, einzusteigen in eine dauerhafte Förderung. Doch alle Appelle verhallen ungehört. Dabei stehen nach den Zahlen aus dem Sozialministerium per anno nur knapp zwölf Millionen Euro „im Bereich Gewalt gegen Frauen“ zur Verfügung. Dass es sich damit um eine Versiebenfachung der Mittel seit 2017 handelt, wie Ute Leidig, die grüne Staatssekretärin gebetsmühlenhaft wiederholt, ist nur ein Beleg dafür, dass zu viele Landesregierungen, selbst die 2011 gebildete aus Grünen und SPD, für geschlagene und gequälte Frauen und Kinder über viel zu lange Zeit viel zu wenig getan haben.

„Seit Jahrzehnten schieben sich Bund, Länder und Kommunen Verantwortung für Frauen- und Kinderschutzhäuser gegenseitig zu“, klagt Moll. Gefördert würden vornehmlich Projekte, nicht aber Angebot und Ausstattung insgesamt. Deshalb fehlen rund 2.000 Plätze, es gibt zu wenig Personal, hohe Aufnahmehürden und enorme finanzielle Unsicherheiten für die Träger. Moll ist eine von fünf Sachverständigen, die der Sozialausschuss geladen hat. Oben auf der Besuchertribüne hören Beschäftigte und Helferinnen zu, „gespannt und bangend in der Hoffnung auf einen Erfolg“, wie eine von ihnen sagt.

Frauenhäuser rechnen sich sogar

Unten im Plenarsaal keine Abkehr von eingefahrenen Ritualen: Der Gesetzentwurf über eine andere Finanzierung ist von den oppositionellen So­zi­al­de­mo­kra­t:in­nen erarbeitet und hat schon allein deshalb keinerlei Chance auf Zustimmung seitens der regierenden Grünen und Schwarzen. Überdies bekommt Dorothea Kliche-Behnke, die frauenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, nicht einmal eine ernsthafte Antwort auf ihre fast flehentliche Anregung, doch gemeinsam einen anderen Gesetzentwurf zu erarbeiten, „wenn unserer aus der Koalitionslogik heraus abgelehnt werden muss“. Statistisch wird in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner getötet, in Baden-Württemberg werden jeden Tag 30 Frauen Opfer von Gewalt, bei einer um ein Vielfaches höheren Dunkelziffer. Dass die Landesregierung dagegen nicht mehr unternimmt, verstößt gegen die Istanbul-Konvention. Eingegangen wurde damit die Verpflichtung, für Frauen und Mädchen „leicht zugängliche und spezialisierte Facheinrichtungen sowie Schutzunterkünfte in ausreichender Zahl und geografischer Verteilung bereitzustellen“.

Im Koalitionsvertrag von 2021 versprechen Grüne und CDU, „Frauen noch besser vor Gewalt zu schützen“ und die Umsetzung der Istanbul-Konvention weiter voranzubringen. Ereignet hat sich mittlerweile die Fortschreibung einer Verwaltungsvorschrift, begleitet von Worthülsen à la „Wir wollen auch neue Bedarfe noch passgenauer abbilden“.

Geboten wäre stattdessen, sich ernsthaft zu kümmern und die problematische Kostenerstattung über das Sozialgesetzbuch II zu reformieren. Ganze Archive könnten die Schilderungen von Einzelfällen füllen, wie sich Frauen nach der Flucht aus der gemeinsamen Wohnung einem Antragswust beim Jobcenter gegenübersehen. Verschiedene Gruppen, etwa Mädchen und junge Frauen in schulischer Ausbildung, wie jene Sophia, von der Melanie Moll berichtet, fallen durch Raster und bekommen den Aufenthalt zu häufig gar nicht finanziert. Der finanzielle Ausgleich zwischen Kommunen und Kreisen ist kompliziert, zugleich aber geradezu zwangsläufig, da Betroffene in die großen Städte drängen. Ein Beispiel, das für den Versorgungsgrad im Land steht: Im Kreis Ludwigsburg gibt es – bei gut einer halben Million Einwohner – 19 Plätze für geschlagene Frauen und Kinder. Was es außerdem konkret und perspektivisch bedeutet, dass zwei Drittel aller Opfer Migrationshintergrund haben, ist erst recht weitgehend ausgeblendet.

Dabei würde es sich rechnen, wenn das Land endlich für einen bedarfsgerechten, dauerhaft abgesicherten Ausbau in allen Kreisen und Kommunen mitsorgte. Pro Kopf der erwerbstätigen Bevölkerung wären pro Jahr 74 Euro allein an direkten und indirekten Kosten einzusparen, wenn dank ausreichender Angebote dauerhaft geholfen werden kann. Zwei Drittel der geschlagenen Frauen, weiß Sylvia Sacco, Professorin am Institut Soziale Arbeit der Brandenburgischen Technischen Universität, müssen nur einmal in ein Schutzhaus oder eine -wohnung umziehen, weil schon auf diese Weise die Gewaltspirale durchbrochen sei. Der „monetäre Mehrwert“ sei erheblich, „für jeden Euro kriegen Sie Hunderte oder sogar Tausende zurück“, so Sacco.

Grundlage vieler Details ist die bisher einzige Studie zu den Kosten häuslicher Gewalt, in die auch Erkenntnisse aus Baden-Württemberg eingeflossen sind. „Sie haben sehr, sehr viel Luft nach oben im Vergleich zu anderen Ländern“, schreibt die Sachverständige den Abgeordneten ins Stammbuch und empfiehlt dringend, nicht von Kosten zu sprechen, sondern von Investitionen. In 23 einzelnen Kategorien kann der Staat Geld sparen, bekämen alle betroffenen Frauen und Kinder die Hilfe, die sie brauchen. Die bundesweiten Zahlen – zum Beispiel eine Milliarde Euro Einsparung bei Polizei und Justiz oder weitere 2,7 Milliarden für gesparte Unterstützung, weil Frauen wieder arbeiten gehen und Kinder oder Jugendliche besser durchs Leben kommen – seien ohne Abstriche auf Baden-Württemberg umzulegen. Dabei seien die positiven Auswirkungen ohne „direkten monetären Wert“ noch gar nicht eingerechnet, zum Beispiel die größere Lebensqualität in betroffenen Familien und ihrem Umfeld.

Statt Geld gibt's eine neue Verwaltungsvorschrift

Völlig ungerührt nehmen die Grünen in Gestalt der Staatssekretärin Leidig und der frauenpolitischen Sprecherin der Landtagsfraktion Stefanie Seemann die vielen Fakten zur Kenntnis. Seemann bekennt sogar, dass sie mit dem neuen Bundesgesetz erst „langfristig“ rechnet. Leidig wiederum vertröstet gerade die Frauen oben auf der Besuchertribüne mit warmem Dank für ihr Engagement und mit einer neuen Verwaltungsvorschrift und verweist auf die Zuständigkeiten der Bundesregierung.

Tatsächlich ist die Ampel weiter. Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Grüne) will gesetzliche Regelungen und einen Rechtsanspruch sowie die Finanzierungslücken schließen. Selbst vor dem Brandenburger Tor wurde ihr Engagement anerkannt. Sie glaube, postet eine Frauenhausmitarbeiterin nach der Kundgebung, die Reform der Ministerin sei „wirklich ein persönliches Anliegen, aber es geht nicht schnell genug“. 140.000 Frauen seien in Deutschland im Jahr Opfer häuslicher Gewalt.

Baden-Württemberg will, anders als andere Länder, dennoch nicht in eine grundlegende Dauerförderung einsteigen, sondern weiter warten. Bei der Anhörung im Landtag warnt Claudia Brüning, Leiterin der Abteilung Sozialarbeit bei der Stadt Stuttgart, die Abgeordneten jedenfalls davor, wieder Zeit verstreichen zu lassen, denn „nach meinen Erfahrungen“ dauert es sehr lange, bis ein Bundesgesetz tatsächlich umgesetzt ist und Verbesserungen vor Ort ankommen. Die SPD-Pläne für Baden-Württemberg werden dennoch abgelehnt. „Wir kämpfen weiter“, sagen die Frauen oben auf der Besuchertribüne, „denn das Themageht uns alle an.“ Und zwar so lange, bis die Botschaft unten im Plenarsaal endlichangekommen ist.

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