: Politik unterm Zeltdach
Politische Veranstaltungen haben im Tempodrom eine lange Tradition. Von der Anti-Atomkraft-Bewegung bis zum Geistheilerkongress ist im Zelt alles vertreten
Das waren noch Zeiten: Beim Auftritt von Bands aus der realsozialistischen Nachbarrepublik entfernt britische Militärpolizei die DDR-Fahne, die vor dem Tempodrom aufgestellt ist. Das war 1986. Zwei Jahre später berichtet der SFB über ein Demo von 4.000 Schwulen und Lesben, die abends im Zirkuszelt im Tiergarten abfeiern, aber auch über Aids und die Folgen diskutieren. Einige Zeit danach feiert der Sozialistische Jugendverband Karl Liebknecht in trauter Eintracht mit dem Aktionsbündnis Demokratischer Sozialisten ihren Jugendtag.
Der Mix von Kultur und Politik ist seit 20 Jahren fester Bestandteil des Tempodrom-Programms: Ein wenig Avantgarde vermengt mit einem Hauch von Subversivität, die in einem Umfeld von Wiesen, Bäumen und Rosensträuchern bestens gedeiht. Auch wenn sich das Umfeld mit dem Neubau am Anhalter Bahnhof geändert hat, setzt das Tempodrom weiterhin auf Kultur und Politik: „Das Tempodrom war immer ein Ort, der für aktuelle politische und gesellschaftliche Veranstaltungen genutzt wurde“, blickt die Gründerin Irene Moessinger zurück. In den letzten 20 Jahren habe sie noch keinem Veranstalter eine Absage erteilen müssen. Mit einer Ausnahme: „Als wir eine Anfrage von einer Erotikmesse hatten, haben wir Nein gesagt.“
Auch weniger harte Fakten fanden den Weg in die Zelte: Geistige Heiler, Medien für Übersinnliches und Religionsvertreter diskutierten beim Kongress „Bewusst Sein 88“ mit Philosophen und Wissenschaftlern über morphische Resonanzen im Besonderen oder die Krise der Welt im Allgemeinen.
Das Interesse am Tempodrom als Veranstaltungsort liegt für Irene Moessinger auf der Hand: „Wir sind im besten Sinne eine Kirche: Die Leute versammeln sich, diskutieren miteinander und tauschen sich aus.“ Nach Veranstaltungen hätten die Zeltbetreiber nie besonders Ausschau halten müssen: „Die kamen immer von alleine“, so die Gründerin.
Dass einen Tag vor Weihnachten eine große Gala für die revolutionären Frauen aus Afghanistan stattfindet, sieht Moessinger als gutes Omen. Eine der Veranstalterinnen ist Stammgast im Tempodrom: Nina Hagen.
VOLKER ENGELS
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