: Polens Sejm: Zwanzig Parteien für 460 Sitze
■ In Polen wird die Demokratische Union Mazowieckis zur stärksten Parlamentsfraktion/ Schwierige Regierungsbildung erwartet
Warschau (afp) — Bei den ersten freien Parlamentswahlen in Polen seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es keinen Gewinner. Zwar konnte die Demokratische Union des ehemaligen Premiers Tadeusz Mazowiecki mit 12,6 Prozent zur stärksten Fraktion werden, mit ihr ziehen jedoch an die zwanzig Parteien in den Sejm ein. Wie die zukünftige Regierungskoalition aussehen wird, ist somit vorläufig völlig ungewiß. — Dies jedoch ist keine Überraschung. Bereits im Vorfeld der Wahlen war aufgrund des Verhältniswahlrechtes damit gerechnet worden, daß die Anhänger der Gewerkschaftsbewegung Solidarność ihre Stimmen auf die verschiedenen aus der Gewerkschaft hervorgegangenen Parteien verteilen werden. Überraschend ist jedoch das Abschneiden der Exkommunisten und der ehemaligen „Blockflöte“ Bauernpartei. Als Demokratische Linke angetreten, sind die Kommunisten mit 11,6 Prozent nun die zweitstärkste Kraft Polens. Die Bauernpartei könnte mit 9,3 Prozent drittstärkste Fraktion im Sejm werden.
Herbe Niederlagen mußten dagegen der Liberaldemokratische Kongreß von Ministerpräsident Bielecki und die ehemalige Gewerkschaft Solidarität einstecken. Sie kamen auf 7,9 und 5,3 Prozent der Stimmen.
Die Katholische Aktion, die mit Präsident Lech Walesa sympathisiert, kommt voraussichtlich auf 9 Prozent, die ebenfalls Walesa nahestehende Zentrumsallianz auf 8,5 Prozent. Das rechte Bündnis für ein unabhängiges Polen (KPN) errang 7,3 Prozent. Mit fünf Abgeordneten wird außerdem die deutsche Minderheit in den Sejm einziehen.
Bereits am Wahlabend signalisierte Mazowiecki seine Bereitschaft zu einer Koalitionsregierung. Seine Partei sei offen für die Zusammenarbeit mit allen aus der Solidarność hervorgegangenen Parteien. „Wir werden zunächst den liberaldemokratischen Kongreß und die Gewerkschaft Solidarität zur Zusammenarbeit einladen“, sagte Mazowiecki.
Mit einem Appell an die Einheit reagierte Staatspräsident Walesa auf das Wahlergebnis. Er rief die Parlamentsfraktionen auf, „die politischen Streitigkeiten zurückzustellen und sich vor allem um die Wirtschaftsreformen zu kümmern“. Er unterstrich, daß Polen eine starke Exekutive brauche. Erneut wiederholte der Staatspräsident seine frühere Forderung: Dem Kabinett solle das Recht gegeben werden, per Dekret zu regieren. Und auch für Premier Bielecki ist das vordringlichste Ziel nun die „Stabilität des Staates“. Nun, so formulierte Bielecki seine Befürchtungen, bestehe die Gefahr, daß die Parteien und Organsiationen versuchen könnten, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Walesa, der einen Premier mit der Regierungsbildung beauftragen muß, hatte sich vor der Wahl für Bielecki stark gemacht.
Wlodimir Cimoszewicz, Parteichef der Sozialdemokraten, zeigte sich noch am Sonntag abend verhandlungsbereit: Die Linke werde zwar die Programme zur Modernisierung der Wirtschaft unter stützen, „aber nicht um jeden Preis“.
Die polnischen Zeitungen spekulierten am Montag über die Zukunft der jungen Demokratie und der Reformen. Die 'Zycie Warszawy‘ bewertete das Wahlergebnis als Absage der Bevölkerung an die gegenwärtige Wirtschaftspolitik. Die Fortsetzung der Reformpolitik werde dadurch in Frage gestellt. Eine stabile Regierung werde genauso unsicher werden wie die Lebensdauer des gerade gewählten Parlaments. Nur die Zeitung der Exkommunisten titelte: „Champagner für die Linke“.
Noch niedriger als erwartet war die Wahlbeteiligung: Nur 40 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Um die Gunst der Wähler konkurrierten 112 Parteien und Gruppen, von denen etwa 20 den Einzug ins Parlament schafften. Daneben mußten noch hundert Senatoren gewählt werden. Es waren die ersten ganz freien Wahlen seit der Entmachtung der Kommunisten. Bei den vergangenen Wahlen im Juni 1989 waren den Kommunisten und ihren verbündeten Parteien 65 Prozent der 460 Sitze im Sejm vorbehalten gewesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen