: Plomben: Vergiften uns die Zahnärzte?
■ Die Debatte über jährlich 40 Millionen Amalgamfüllungen spaltet seit Jahren Standesmediziner und ihre Kritiker / Niemand bestreitet mehr die Quecksilberbelastung, umstritten bleibt ihre Wirkung
Anfang der 60er Jahre schreckte eine spektakuläre Quecksilbervergiftung die Öffentlichkeit. Industrielle Abwässer in der japanischen Minimata-Bucht hatten über die Nahrungskette Muschel-Fisch-Mensch hunderte von Anwohnern zum Teil tödlich vergiftet. Zu den Symptomen gehörten neurologische Störungen wie Müdigkeit, Nervosität, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Depressionen, Schädigungen der Niere und des Verdauungstrakts, Allergien, Schwächung des Immunsystems und Mißbildungen bei Neugeborenen.
Quecksilber, das „lebendige Silber“, ist ein hochgiftiges Metall. In den Industrieländern nimmt jeder seine tägliche Ration mit der Nahrung, dem Trinkwasser oder über die Plomben in seinem Mund zu sich. Darum soll es hier gehen: Zahnfüllungen aus Amalgam, einer silbrig gänzenden Legierung, werden heute zur Hälfte aus Quecksilber, zur anderen Hälfte aus Metallen wie Silber, Kupfer, Zinn und Zink angerührt. Der rasch aushärtende Mix ist einfach und schnell zu verarbeiten, und er hält selbst dem enormen Kaudruck von über 70 Kilogramm pro Quadratzentimeter stand. Pro Jahr schieben bundesdeutsche Zahnärzte 20 Tonnen Quecksilber (40 Millionen Füllungen) in unsere Mäuler.
Der Haken an diesen ansonsten segensreichen „Dauerverbänden“ für hohle Zähne: Elektrochemische Vorgänge im Mund führen zur allmählichen Korrosion der Legierung, Quecksilberionen werden freigesetzt, dringen ins umliegende Gewebe ein oder gelangen mit dem Speichel in Magen und Darm. Direkter Abrieb beim Kauen kommt hinzu. Dabei entsteht Quecksilberdampf, der beim Einatmen in die Lunge gerät. Schließlich bilden Mikroorganismen, die Zahnbelag, Speichel und Darm bevölkern, organisches Quecksilber - die giftigste Variante.
Organe als Quecksilber
zwischenlager
Die verschiedenen Spielarten des Metalls werden in unterschiedlichem Maß vom Organismus aufgenommen und besonders in Leber, Niere und Gehirn „zwischengelagert“. Mit unterschiedlicher Verzögerung wird das giftige Metall nach und nach wieder freigesetzt, aus leicht mobilisierbaren Depots im Verlauf von Monaten, aus anderen erst nach Jahren oder Jahrzehnten. Die toxische Wirkung beruht darauf, daß sich Quecksilber mit großer Vorliebe an die Schwefelgruppen von Eiweißen bindet. Enzyme werden so in ihrer lebenswichtigen Aktivität gelähmt. Außerdem lösen Quecksilber-Eiweiß-Verbindungen Allergien aus.
Seit Jahrzehnten liegen Befürworter und Kritiker der kleinen dunklen Füllungen im Clinch. Umstritten ist insbesondere die Frage, wieviel Quecksilber sich allmählich aus den Plomben und wie groß die damit verbundene gesundheitliche Gefährdung ist. Bis heute fehlt eine umfassende Studie, die Speicherung und Ausscheidung des Metalls genau belegt. Aus diesem Manko soll ein kürzlich in Österreich in Auftrag gegebenes, großangelegte Forschungsprojekt herausführen, das mit Hilfe von radioaktiv markiertem Quecksilber nach dessen Verbleib im Organismus fahnden soll. Fest steht jedoch seit langem: Personen mit Amalgamfüllungen weisen in Blut und Urin höhere Quecksilberspiegel auf als Menschen ohne Füllungen. Die Konzentrationen steigen mit der Anzahl der Plomben. Dasselbe gilt für Quecksilberlasten in Gehirn und Niere.
So richtig in Schwung brachte die Amalgam-Debatte zuletzt der Münchner Toxikologe Max Daunderer. Er hatte Plombenträgern mit neurologischen Symptomen intravenös das Medikament Dimaval injiziert, das im Körper gespeichertes Quecksilber ausschwemmt. Die Konzentration des giftigen Metalls im Urin stieg prompt über den noch beschwerdefrei tolerierten Wert von 50 Mikrogramm pro Liter. Und: Unmittelbar nach Entfernen der Amalgam-Füllungen besserte sich das Befinden der Patienten. Daunderers Folgerung: Millionen von Menschen würden schleichend vergiftet. Amalgam als Füllmaterial für Zähne müsse sofort verboten werden.
Hunderttausend Kunstfehler am Tag?
Die Antwort der Standesmediziner ließ nicht lange auf sich warten. Die Erlanger Professoren Schiele und Kröncke zogen mit einer eigenen Studie nach. Sie verabreicheten ihren Versuchspersonen ebenfalls Dimaval, allerdings in Form von Kapseln. Auch bei dieser Untersuchung nahm die Menge des ausgeschiedenen Quecksilbers in deutlicher Abhängigkeit von der Zahl der Amalgamfüllungen zu, lag allerdings weit unterhalb der von Daunderer gemessenen Werte. Die Diskrepanz ist indes leicht zu erklären: Beim Schlucken von Dimaval kommt im Vergleich zur intravenösen Spritze nur ein Drittel des eingesetzten Medikaments im Blut an. Entsprechend geringer als bei Daunderer war bei der Untersuchung der Erlanger Toxikologen die Wirksamkeit. Auch bei einer eigens einberufenen Anhörung im Münchner Zahnärztehaus im vergangenen Herbst gab sich Daunderer keine Blöße. Wissenschaftlich unseriöse Methoden jedenfalls konnten die anwesenden Experten dem Aufrührer nicht nachweisen. Die These, Tausende von Zahnärzten würden täglich an die hunderttausend Kunstfehler begehen, ist unwiderlegt.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält eine Quecksilberaufnahme von 50 Mikrogramm pro Tag für zumutbar ein Grenzwert, der individuelle Faktoren unberücksichtigt läßt. Etwa, ob ein Mensch an einer chronischen Erkrankung leidet, ob er zusätzlich durch andere Giftstoffe malträtiert wird, ob er besonders empfindlich auf Quecksilber reagiert oder ob eine Frau schwanger ist. Eine neuere amerikanische Studie belegt, daß Amalgam das Immunsystem schwächen und damit Erkrankungen verschärfen kann: Bei Leukämie-Patienten besserte sich das Blutbild nach der Entfernung ihres Amalgam.
So konnte auch in diesem Fall die bei fast allen Giftstoffen bekannte Grenzwertdiskussion nicht ausbleiben. Amalgamkritiker sind überzeugt, daß das Gift den Organismus unabhängig von der Konzentration belastet und allein die Abwehrkräfte des einzelnen darüber entscheiden, ob er krank wird oder nicht. Amalgambefürworter halten dagegen, Unverträglichkeiten in Form von Allergien seien nur bei einer verschwindend geringen Zahl der Plombenträger zweifelsfrei festzustellen.
Beweise gibt es weder für die eine noch für die andere Behauptung. Der Grund: Die Symptome einer schleichenden Quecksilbervergiftung sind derart uncharakteristisch, daß eine unzweifelhafte Ursache-Wirkung-Beziehung in der Praxis selten festzustellen ist. Das Dilemma wird deutlich an einer epidemiologischen Untersuchung der Universität Uppsala in Schweden. Zwar fanden die Forscher bei ihren Versuchspersonen eine signifikante Korrelation zwischen krankhafter Müdigkeit und der Zahl der Amalgamfüllungen. Eindeutige Zusammenhänge gab es jedoch auch mit dem Alter oder den Rauchgewohnheiten.
Und der Patient? Wer sich gegen das Gift im Mund entscheidet, hat die Wahl zwischen hochwertigen (und teuren) Gold- oder Keramikfüllungen oder weniger haltbaren (und billigeren) „Composite-Inlays“. Dritte Alternative: Weniger Süßigkeiten, Zähneputzen!
Angela Renate Speth/gero
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