: „Plebiszitärer Hexensabbat“
■ Nach dem Selbstmord des PDS-Abgeordneten Riege wird die Kritik an der Stasi-Aufarbeitung immer lauter/ Politiker warnen vor „Stasi-Hysterie“ und „Hexenjagd“/ Die Medien im Kreuzfeuer der Kritik
Berlin (taz) — Hexenjagd“, „Moral-Monopoly“ und „Stasi-Hysterie“: Nach dem Selbstmord des PDS- Bundestagsabgeordneten Gerhard Riege, den Stasi-Anschuldigungen gegen den Brandenburger Ministerpräsidenten Stolpe und PDS-Chef Gregor Gysi wird die gegenwärtige Form der Vergangenheitsbewältigung immer mehr in Frage gestellt. Die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth forderte gestern, sich nicht ausschließlich auf die der Stasi geleisteten Spitzeldienste zu konzentrieren, sondern die „Hauptverantwortlichen“ in die Auseinandersetzung mit einzubeziehen. Es sei zwar der verständliche und legitime Wunsch der Mehrheit in den neuen Bundesländern gewesen, die Stasi-Akten den Bürgern zugänglich zu machen, erklärte die Bundestagspräsidentin, doch reduziere sich die Auseinandersetzung zunehmend auf die Inoffiziellen Mitarbeiter. Es bestehe nun die Gefahr, daß neue Feindbilder aufgerichet würden, „hinter denen die totalitäre Allmacht der Stasi verdeckt bleibt“. Rita Süssmuth beklagte gegenüber der Nachrichtenagentur 'ap‘ ein „gesellschaftliches und politisches Klima, in dem Beschuldigte und Schuldige nicht mehr die faire Chance zu einem Neuanfang haben“. Ziel der Vergangenheitsbewältigung dürfe nicht die menschliche Vernichtung Schuldiger sein, sie müsse vielmehr Versöhnung heißen.
In einem Kondolenzschreiben an die Witwe des PDS-Abgeordneten erklärte der Präsident des Thüringer Landtages, Gottfried Müller: „Der Tod Ihre Mannes mahnt uns, bei der unbedingt notwendigen Aufarbeitung der Vergangenheit gerechter, humaner und politisch klüger zu verfahren.“ Eine freiwillige Überprüfung der Mitglieder der PDS-Bundestagsgruppe durch die Gauck-Behörde hatte unter anderem ergeben, daß Riege in den fünfziger Jahren sechs Jahre lang als „Kontaktperson“ für die Stasi tätig war. Die Schuld, die Riege „mit sich trug, ist jener unterzuordnen, welche die Gesellschaft auf sich nimmt, wenn sie pauschal verurteilt und ächtet, anstatt die unterschiedlichen Belastungen gerecht abzuwägen“.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer nahm den Freitod Rieges zum Anlaß, im Pressedienst der SPD ein Ende der „öffentlichen Stasi-Hysterie“ zu fordern: „Was wir erleben, ist ein plebiszitärer Hexen- und Teufelssabbat, der eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig ist“. Der Bundestag sollte eine Besinnungspause in der Debatte einlegen, wie mit den Stasi-Akten umgegangen werde. „Ein Staat, in dem frühere SA-Mitglieder und Hitlerjungen zu allerhöchsten Staatsämtern aufstiegen, hat keine moralische Rechtfertigung, einen Mann wie Gerhard Riege zu verdammen, weil er zwischem dem 24. und 30. Lebensjahr Stasi-Kontakte hatte.“
Auch der Konsistorialrat der Evangelischen Kirche in Pommern, Hans-Martin Harder, kritisierte die Art der Stasi-Aufarbeitung als „prinzipiell falsch“. Gegenüber der 'Westfälischen Rundschau‘ äußerte er die Befürchtung, „daß hinter denen, die jetzt verfolgt werden, sich die wirklichen Täter geschickt verstecken“. Den „Mut, zu differenzieren“, klagte am Sonntag abend der Stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse bei einer Sat.1- Talk-Show besonders bei den Medien ein. „Grau- und Zwischentöne“ des Alltages in der DDR würden in der Berichterstattung unterschlagen, die Praxis sei heute: „einfach hinhauen, sofort veröffentlichen, nicht hinschauen“. In der gleichen Gesprächsrunde nannte der Historiker Arnulf Baring den Umgang der Westmedien mit in Stasi-Verdacht geratenen Politikern eine „nationale Schande“. Zeitschriften wie der 'Spiegel‘ würden mit den Stasi-Akten eine regelrechte publizistische Jagd auf Politiker der ehemaligen DDR veranstalten. Der Publizist Günter Gaus sprach 'dpa‘ zufolge von einem „Moral-Monopoly“, das vor allem westdeutsche Politiker und Medien mit der Bewältigung der DDR-Vergangenheit trieben. Wie weit die Maßstäbe einer Beurteilung bereits verzerrt seien, ließe sich daran ermessen, „daß wir in einer Gesellschaft leben, in der Auschwitz die Singularität bestritten wird, die Schrecken der DDR jedoch als eine Einmaligkeit präsentiert werden“. Wolfgang Gast
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen