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Plädoyer für eine „Realpolitik der Vernunft“

„Ich wende mich hier an alle, die die Kultur nicht als ein Erbe betrachten, als eine tote Kultur, der man mit dem obligatorischen Kult einer rituellen Frömmigkeit begegnet, an alle, die die Kultur nicht als ein Instrument der Herrschaft oder der Distinktion betrachten, sondern als ein Instrument der Freiheit, das Freiheit voraussetzt [...].

Ich möchte die Gründe skizzieren, die uns heute dazu drängen, die Intellektuellen zu mobilisieren und eine ,Internationale der Intellektuellen‘ zu schaffen. Ich glaube nicht, daß ich einer apokalyptischen Vision vom Zustand des Feldes der kulturellen Produktion in den verschiedenen europäischen Ländern das Wort rede, wenn ich sage, daß dessen Autonomie sehr stark bedroht ist [...]; und daß die Künstler, Schriftsteller und Gelehrten immer vollständiger aus der öffentlichen Debatte verschwinden, und zwar sowohl, weil sie selbst immer weniger geneigt sind, zu intervenieren, als auch, weil ihnen immer weniger Möglichkeiten zu intervenieren geboten werden. [...]

Die Verdrängung der Künstler, Schriftsteller und Gelehrten aus der öffentlichen Debatte ist das Resultat verschiedener Faktoren: einige entspringen aus der internen Entwicklung der kulturellen Produktion – wie die forcierte Spezialisierung, die den Forschern die breiten Ambitionen früherer Intellektuellengenerationen verwehrt. Ein anderer Faktor ist der immer größere Einfluß einer Technokratie, die die Bürger aus ihren Pflichten entläßt und eine ,organisierte Verantwortungslosigkeit‘ (Ulrich Beck) begünstigt. Sie findet bereitwillige Komplizen nicht nur unter den in Konkurrenzspiele verwickelten Journalisten, sondern auch unter den Kommunikations-Technokraten, die quer durch alle Medien und selbst in der eigentlichen Sphäre der kulturellen Produktion immer stärker präsent sind. [...]

Die Kulturproduzenten werden nur dann jenen Platz in der Gesellschaft zurückgewinnen, der ihnen zusteht, wenn sie ein für alle Mal den Mythos des ,organischen Intellektuellen‘ aufgeben, ohne in die komplementäre Mythologie zu verfallen – die des Mandarin-Intellektuellen, der von der Welt zurückgezogen lebt –, und zusammen ihre eigensten Interessen verteidigen; [...sie müssen] die ökonomischen und sozialen Bedingungen der Autonomie jener sozial privilegierten Felder verteidigen, auf welchen die materiellen und intellektuellen Instrumente dessen produziert und reproduziert werden, was wir ,Vernunft‘ nennen. Diese Realpolitik der Vernunft wäre sicherlich dem Verdacht des Korporatismus ausgesetzt. Aber es gälte eben zu zeigen [...], daß es sich dabei um einen Korporatismus des Universellen handelt.“

Abb.: Europa bei Nacht. Satellitenaufnahme. Der Text ist die stark gekürzte Fassung des Appells von Pierre Bourdieu zur Gründung einer „Internationale der Intellektuellen“.

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