■ Standbild: Placebo-TV
„Fernsehen ohne Scham- und Schmerzgrenze“, Do., Hessen 3, 20.15 Uhr
Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen. Zumal, wenn sich eine sendungsbewußte öffentlich-rechtliche Diskussionsrunde ins TV-Babel von Sex & Gewalt hineintastet. Überall lauert das Verderben: „Die ganzen Krimis sind doch nichts Positives“, sagt jemand und fordert mehr Karneval. Eine Mutter glaubt an den Vorbildrealismus der Cartoons und beklagt: „Die kleinen Comicmännchen stehen immer wieder auf.“ Schlimme Bilder aus Sarajevo, fordert eine Frau, sollen erst nach 22 Uhr gesendet werden. Schlecht sei vor allem das Schielen nach den „Marktbedingungen“, meint die HR-Chefredakteurin und Moderatorin Luc Joachimsen, die einst in England enthüllende Sozialreportagen drehte, wie „Seit Susie strippt“ oder kürzlich den sehr diskreten Bericht über Sex- Skandale. Dementsprechend hätte es also um den Realismusbegriff, um eigene Faszination und das gesellschaftliche Klima gehen müssen – doch geboten wurde eine Reprise empörter Betroffenheit. Vergebens ging HR-Programmdirektor Conrad in die Offensive und prangerte „die Bewahrpädagogik“ an – schon die Grimms seien grausam gewesen.
Doch immer tiefer krebste die Debatte in die Sicherheitszone der besseren Moral – Eingeständnisse eigener Verantwortung: Fehlanzeige. Wahllos flogen die Argumente umher, wie die „spitzen Hüte“ der Dadaisten – behütete Kindheit, böse Welt, geldgieriger Privatfunk. Dabei schwappt längst die Kitschwelle über alle Kanäle – fingierte Traumhochzeiten anstelle echter Polizistenmorde – und der Melitta-Mann übernimmt die Nachrichten? Peinlich bloß, daß die ARD den Trend wieder verpennt hat und Sat.1-Mann Pannier genüßlich dem „Brisant“-Magazin gehäutete Ratten und S/M-Parties bereits nachmittags nachsagen konnte. Reaktion: rascher Themenwechsel. Der Vorschlag einer „Abrüstungskonferenz“ wirkt so brisant wie ein abgehangener „Derrick“-Krimi – aseptisch, lustlos und ohne echte Konflikte. Doch gegen die harte soziale Realität und die dadurch ausgelösten Obsessionen hilft kein Placebo- TV.Dieter Deul
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen