: Pirat Nummer 2.397
38 Jahre lang machte Jörg Tauss Politik für die SPD. Dann beschaffte er sich Kinderpornos, verlor Ansehen und Ämter und wechselte die Partei
■ 10. November 1994: Der baden-württembergische IG-Metaller Jörg Tauss zieht für die SPD in den Bundestag ein. Er wird dort Experte für Bildung, Forschung und neue Medien. Spitzname: „Inter-Tauss“.
■ 5. März 2009: Der Bundestag hebt Tauss’ Immunität auf. Fahnder durchsuchen seine Büros und Wohnungen und finden dabei kinderpornografisches Material. Tauss gibt an, er habe als Internetexperte der SPD-Fraktion in der Szene recherchiert.
■ 20. Juni 2009: Tauss tritt aus der SPD aus und in die Piratenpartei ein. Er wird der erste Pirat im Bundestag. wos
AUS HAMBURG UND GOCHSHEIM WOLF SCHMIDT
Er passt hier nicht rein. Nicht mit diesem Hemd und der Krawatte und der schwarzen Anzughose. Und mit seinen 56 Jahren könnte er der Vater der jungen Informatikstudenten, Programmierer und Webdesigner sein, die in Schlabbershirts und kurzen Hosen vor ihm sitzen. Doch als Jörg Tauss an das Pult mit dem schwarz-orangen Banner tritt und erzählt, dass er wegen der Internetsperren nun vor das Verfassungsgericht ziehen will, da fangen sie an zu klatschen, zu jubeln, stehen auf. Hier auf dem Parteitag der Piratenpartei in Hamburg ist Jörg Tauss noch eine große Nummer. Er ist ihr Mann im Bundestag. Der erste Pirat im Parlament. Er ist ihr Held. Außerhalb dieser Welt aber ist Tauss ein Gefallener. In den vergangenen Monaten ist sein Leben völlig aus den Fugen geraten. Er selbst hat es aus den Fugen geraten lassen.
Es hört auf, wie es angefangen hat. Techniker der Bundestagsverwaltung stehen in Tauss’ Abgeordnetenbüro in Berlin. Es ist Ende Juni, vor wenigen Tagen hat Tauss nur einige hundert Meter von hier eine Totenkopffahne geschwenkt und so seinen Austritt aus der SPD und den Eintritt in die Piratenpartei bekannt gegeben. Gerade eben ist nun auch die E-Mail eingetroffen, in der seine Aufnahme bestätigt wird. Stolz zeigt er die Nachricht auf seinem Laptop. Tauss ist jetzt Pirat Nummer 2.397.
Rosenkrieg
Die Techniker sind da, um Tauss’ Rechner vom Intranet der Sozialdemokraten abzukoppeln. Eine SPD-Tasse hat er noch im Regal stehen, „Für gute Inhalte“ steht darauf, aber auf die Inhalte der SPD hat er jetzt keinen Zugriff mehr. Das Zimmer nebenan muss er ganz an die SPD-Fraktion abtreten. Seine Kaffeemaschine, die dort noch steht, will er aber mitnehmen. „Hier herrscht jetzt Rosenkrieg“, sagt er mit brummiger Stimme. Die Sekretärin lächelt verkrampft.
Die Techniker waren schon einmal da, gleich nachdem Tauss 1994 in den Bundestag eingezogen war, damals noch in Bonn. Tauss hatte eigenmächtig ein Internetmodem installiert, der Bundestagsverwaltung passte das nicht. „Wo ist dieses Internet, wir müssen das abknipsen“, soll der Techniker gesagt haben.
Sein Ding durchziehen. Auch mal die Regeln brechen. Das war schon immer seine Art. 1984 flog Tauss aus der Gewerkschaft DAG, weil er denen zu radikal war. „Ein typischer Tauss“, sagt Exarbeitsminister Walter Riester, dessen Pressesprecher Tauss 1990 bei der IG-Metall Baden-Württemberg wurde. „Jörg war immer sehr geradlinig, aber auch ohne Rücksicht auf Verluste.“ Tauss sagt über sich selbst: „Ich war ein Actiongewerkschafter, und ich war ein Actionabgeordneter.“
Doch in den vergangenen Monaten hat Tauss Grenzen überschritten, die er nicht hätte überschreiten sollen. Er hat sich Kinderpornos beschafft. Er hat seine Ämter verloren und sein Ansehen. Er hat seine Partei verlassen und ist zu den Piraten übergelaufen. Seine Karriere ist ruiniert. Und sein Privatleben ramponiert.
Was Tauss in der Kinderpornoszene wollte, ist nach wie vor rätselhaft. Klar ist nur: Sein altes Leben endet, als am 5. März der Bundestag seine Immunität aufhebt, Fahnder seine Büros und Wohnungen in Berlin und im Karlsruher Umland durchsuchen und dabei auf einem Handy und in einem Koffer mit DVDs und Videos Kinderpornos finden. Details der Ermittlungen finden schnell den Weg in die Medien, vielleicht ein bisschen zu schnell. Andere würden in so einer Situation abtauchen. Nicht so Tauss. „Der wollte schon immer mit dem Kopf durch die Wand“, sagt Ulla Burchardt, die mit Tauss jahrelang die Bildungspolitik der Sozialdemokraten bestimmt hat.
Und er will es weiter, sosehr es auch schmerzt.
Kraichtal in der Nähe von Karlsruhe, Stadtteil Gochsheim. Früher war Tauss hier eine große Nummer. Generalsekretär der SPD in Baden-Württemberg, Bundestagsabgeordneter in Berlin – das ist doch was für einen 1.600-Einwohner-Ort! Heute wissen die Gochsheimer nicht mehr so recht, wie sie mit dem Tauss umgehen sollen.
Tauss und seine Ehefrau Irmgard mussten gerade in das Dachgeschoss einer Metzgerei umziehen. Vorher wohnten sie in ihrem Haus quer über die Straße, am Hügel zum Graf-Eberstein-Schloss. Dort hängt am Fenster jetzt ein Zettel: „Zu vermieten von privat, ab sofort“. Tauss murmelt etwas von „finanziellen Gründen“.
An diesem Sonntag Ende Juni feiern sie in den Gassen um das Schloss Museumsfest. Tauss versucht sich so zu verhalten, wie er es auf Dutzenden von Festen gemacht hat. Er geht auf die Menschen zu, schüttelt Hände. Er sagt „Hallöchen“ zur Begrüßung und ein badisches „Alla“ zum Abschied. Er fragt, wie es dem Vater geht und was denn der Efeu macht. Aber glücklich wirkt er nicht. Er tapst verloren durch die Gassen, wie ein alternder Bernhardiner. „Ich wollt’ nicht in ihrer Haut stecken“, sagt ein Passant. Ehefrau Irmgard ist lieber gleich zu Hause geblieben.
Als Tauss zur Bühne in der Nähe des Schlosses schlendert, trifft er den CDU-Landtagsabgeordneten Joachim Kößler. Der grinst Tauss an, ruft: „Der Pirat!“ Nun muss er sich auch noch von einem Provinzhinterbänkler verspotten lassen. Dann hält der Bürgermeister eine Rede. Er begrüßt den Bundestagsabgeordneten Tauss – und alle Köpfe drehen sich in dessen Richtung. Augen mustern ihn von oben bis unten, das Getuschel geht los.
Warum tut Tauss sich das an?
Wenn es ganz schlimm wird, zieht er sein iPhone aus der Tasche, schaut nach, ob er eine Twitternachricht bekommen hat. Tauss lupft dafür seine Brille und geht nahe an das Telefondisplay heran. Es ist, als ob er Zuflucht sucht in der Welt, in der er noch was gilt. Beim Internetdienst Twitter hat Tauss seit seinem Übertritt zu den Piraten tausende Anhänger dazugewonnen, mehr als 7.500 sind es schon. Sie feiern ihn dort als aufrechten Demokraten. Und sie glauben ihm seine Geschichte, so abenteuerlich sie auch ist.
Tarnname „Werner“
Tauss’ Geschichte geht so: Als SPD-Internetexperte wollte er sich selbst ein Bild davon machen, wie Kinderpornos verbreitet werden. Den Behörden habe er nicht trauen können. Also nahm er selbst Kontakt auf über Sexhotlines, legte sich den Tarnnamen „Werner“ zu, kaufte kinderpornografisches Material. Und um zu zeigen, dass er kein Polizist ist, verschickte er auch selbst Bilder. Kurz glaubte er sogar daran, einen Kinderpornoring sprengen zu können. Am Ende seiner „Recherchen“ habe er das Material dann in einen Koffer gepackt und weggeräumt.
Tauss glaubt bis heute, dass sein Vorgehen rechtlich in Ordnung war, und beruft sich auf eine Ausnahme für „berufliche Pflichten“. Die Staatsanwaltschaft sieht das anders. Noch dauern die Ermittlungen an. Tauss hofft auf eine Einstellung des Verfahrens, und wenn es gut läuft, bekommt er die auch, gegen eine Geldstrafe. Wenn es schlecht läuft, muss er sich in einigen Wochen vor Gericht viele unangenehme Fragen stellen lassen.
Sondermüll
Warum hat Tauss sich nirgendwo abgesichert und nicht einmal ein Rechercheprotokoll verfasst? Was ist mit dem Koffer mit DVDs und Videos, den die Fahnder in Tauss’ Berliner Wohnung gefunden haben? Warum hat er ihn am Ende seiner Recherchen nicht irgendwo abgegeben? „Spätestens bei einem Umzug hätte ich das natürlich entsorgt“, sagt Tauss bei einem Gespräch in seinem Berliner Abgeordnetenbüro. Und wohin? „Das wäre dann, glaube ich, Sondermüll. Wobei – werden DVDs nicht einfach über den Hausmüll entsorgt?“
Er sagt das wirklich. Und lacht. Wieder so ein typischer Tauss.
Am liebsten wäre es vielen in der SPD gewesen, Tauss wäre nach den Kinderpornofunden in Urlaub gefahren und bis zum Ende der Legislaturperiode nicht mehr zurückgekommen. Oder er hätte gleich sein Mandat abgegeben und nicht nur die Parteiämter. Aber den Gefallen hat Tauss ihnen nicht getan.
Nur wenige Wochen hat er sich rausgehalten, dann wetterte er gegen ein geplantes Gesetz zur Sperrung von Kinderpornoseiten im Internet. Das ist seiner Ansicht nach der Einstieg in eine „Zensurinfrastruktur“. Er ist mit dieser Meinung nicht allein, 130.000 Bürger haben eine Petition unterschrieben.
Doch in der SPD-Fraktion findet Tauss kein Gehör mehr. Die Genossen finden, er solle bei dem Thema einfach die Klappe halten. Einer, der unter Kinderpornoverdacht steht, will Internet-Kinderpornosperren verhindern? Für die Sozialdemokraten ist das nicht vermittelbar. Auch in Gochsheim verstehen die Leute das nicht.
Bei der Abstimmung im Bundestag Mitte Juni stimmt Tauss als einer von nur drei SPD-Abgeordneten gegen das Gesetz. Bei der Debatte will Tauss seinem Parteifreund Martin Dörmann eine Zwischenfrage stellen. Der sagt nur: „Zwischenfragen anderer Mitglieder dieses Hauses gestatte ich gerne, aber nicht die des Kollegen Tauss.“
Zwei Tage später schwenkt Tauss die Totenkopffahne.
Im Bundestag hat er am vergangenen Freitag einen Stuhl ganz hinten im Plenarsaal zugewiesen bekommen, direkt neben einem Stützpfeiler, mit mehreren Metern Abstand zur SPD-Fraktion und zur Linksfraktion. Tauss sitzt dort, schlägt die Beine übereinander, schaut immer wieder auf sein iPhone.
Schließlich geht er zum Rednerpult. Er will jetzt noch einmal ein bisschen Action machen. „Wenn man auf Google das Stichwort Verräterpartei eingibt“, sagt er, „dann erscheint als Suchergebnis SPD.“
Den Sommer über will Tauss die Piraten im Wahlkampf unterstützen. Er will an Unis auftreten, selbst aber nicht kandidieren. Wenn es gut läuft, bekommen die Piraten ein, zwei Prozent bei der Bundestagswahl im Herbst. Danach wird es wieder ruhig werden um sie. Und irgendwann auch um Jörg Tauss.
Er wird noch mal von vorne anfangen müssen. Nach 15 Jahren Bundestag. 38 Jahren Sozialdemokratie. Und 33 Jahren Ehe.