Philosoph Ralf Koerrenz über Verrat: „Eine anthropologische Konstante“
Verrat habe es immer gegeben, sag Ralf Koerrenz, und nicht nur Judas’ Denunziation sei letztlich positiv gewesen. Auch Wikileaks habe die Menschheit weitergebracht
taz: Herr Koerrenz, war der erste Verräter der Menschheit der Cäsarenmörder Brutus – oder ein Neandertaler?
Ralf Koerrenz: Da würde ich mich nicht festlegen wollen, sondern mich eher auf die kulturgeschichtliche Tradition des Judentums und Christentums beschränken. Dort ist der erste grundlegende Verrat mit dem Symbol des Apfels und der Vertreibung aus dem Paradies verbunden. Und natürlich verrät Kain Abel; auch der Turmbau zu Babel bedeutete einen großen Verrat. Und immer war es der Verrat an einer grundlegenden Ordnung oder der grundlegenden Begrenztheit des Menschen.
Es geht um Verrat an Gott.
Nein, an der Sache. An den Lebensgrundlagen des Menschen. Am Zusammenspiel von Recht, Erbarmen – Hinwendung zu Ausgegrenzten und Schwachen – und Gottesdienst. Wir können Gott nicht in einem abstrakten Gottesdienst verehren, wenn wir Rechtssicherheit oder Sozialfürsorge missachten. Diesen Verrat – die Untreue gegenüber dem in der Thora festgehaltenen Lebensrahmen – haben schon die Propheten Amos und Hosea in der Hebräischen Bibel angeprangert.
53, Theologe, Pädagoge, Germanist und Philosoph, ist Professor für für Historische Pädagogik und Globale Bildung an der Universität Jena
Sprechen wir über Judas. War er wirklich ein Verräter?
Als Historiker würde ich sagen: sehr wahrscheinlich, aber warum genau, wissen wir nicht. Die theologischen Deutungen variieren. Aber die wichtigere Frage lautet: Wen verrät Judas eigentlich? Er verrät einen Lehrer, einen Rabbi, der der Obrigkeit durch Nonkonformismus aufgefallen ist. Der durch seine Predigten den Common Sense infrage stellte – das Sicheinrichten in einer Wirklichkeit mit bestimmten Ausgrenzungs-, Diskriminierungs- und Deutungsmustern. Judas verrät in meinen Augen also einen Lehrer, der die menschenfreundliche Auslegung von Recht propagierte. Die traditionelle christliche Auslegung dagegen besagt, Judas – der ja für den Verrat bezahlt wurde – habe ökonomische Interessen gehabt oder einen Dachschaden. Oder er sei Instrument Gottes in einem vorgegebenen Heilsplan gewesen.
Ohne Judas’ Verrat wäre Jesus nicht gekreuzigt und zum Religionsstifter geworden. Was ist ein Christentum wert, das auf Verrat beruht?
Faktisch basiert das Christentum ja auf anderen Dingen: dem Inhalt des Lebens Jesu und der Idee, dass er der Christus, der Gesalbte und Herausgehobene, war. Und ein wesentlicher Verrat des Christentums an seinen eigenen Maßstäben bestand darin, dass es ab dem vierten Jahrhundert die Allianz von Thron und Altar einging. Und der größte Verrat des Christentums an sich selbst ist jegliche Form des Antisemitismus.
Standesämter akzeptieren bis heute nicht den Vornamen „Judas“. Für einen Religionsstifter recht absurd.
Persönlich regt mich das nicht so auf. Aber die Beobachtung ist natürlich interessant, weil da kulturgeschichtlich offenbar ein Verräter-Stereotyp eingegraben wurde. Trotzdem hat Judas eine zentrale symbolische Funktion, weil die Geschichte des Christentums sonst nicht in Gang gekommen wäre.
Hält Verrat überhaupt Weltgeschichte in Gang? Als Garant für Veränderung – sei es als Tyrannenmord, sei es als Wikileaks?
Verrat an sich gibt es ja nicht, sondern immer nur Verrat von Etwas. Die Frage ist, was verraten wird und wozu. Bei Aufklärungsmechanismen wie Wikileaks kann man in der Tat fragen, ob sie nicht tun, was schon die Propheten Amos und Hosea forderten: für die Wahrung bestimmter Rechtsverhältnisse einzutreten – unter Einsatz der eigenen Existenz. Bei den aktuellen Vorgängen in der Niedersächsischen Landesregierung scheint es mir eher um egoistische Interessenwahrung zu gehen. Was sicher legal ist, aber ich würde es nicht mit der Enthüllungsleistung von Wikileaks gleichsetzen oder mit den Panama Papers. Dort geht es um die ökonomische Weltarchitektur und die Frage, wie wir Macht- und Besitzverhältnisse aufdecken können.
Die Vokabel „Verrat“ ist erst seit wenigen Jahren wieder Teil des politischen Diskurses. Dabei ist sie ähnlich archaisch wie „Ehre“ oder „Mordbrenner“. Ist diese Sprache einer modernen Gesellschaft angemessen?
Ich halte Verrat für anthropologisch grundlegend, diese Chiffre ist existenziell eingeprägt. Das Wort ist vielleicht aus der Mode gekommen, weil es nicht zur Konsumwelt passt, die uns eher einlullen will. Aber anthropologisch ist Verrat permanent präsent – es sei denn, wir sind in unseren Köpfen komplett entleert und haben gar kein Referenzsystem mehr für irgendetwas, das uns wichtig ist. Wer nichts mehr verraten kann, ist arm dran.
Dann können wir ja froh sein, dass wir noch wissen, was Verrat ist.
Ja. Verrat ist etwas Natürliches – auch als individuelle Gefährdung: Wo verrät man sich selbst? Das würden viele Menschen im Hinblick auf ihr Referenzsystem unterschiedlich beantworten. Aber die meisten haben solch ein System.
Auch etliche Menschheits-Epen – Veden, Islandsagas, Gilgamesch-Epos, Igor- und Nibelungenlied – erzählen von Verrat. Braucht jede Kultur ihren Verräter?
Die Beobachtung ist interessant, aber als allgemeingültig überzeugen wird sie mich erst, wenn Sie auch in Buddhismus und Taoismus entsprechende Texte nachweisen, die für das Verständnis der Religion wesentlich sind. Denn beim Verrat geht es auch um menschliche Selbstbilder, um eine gewisse Form von Individualität. Ein Verräter gewinnt durch den Verrat ein Identitätsmerkmal. Ich weiß nicht, wie weit dieses Denken in Individualität eine westliche Prägung ist. Soweit ich informiert bin, ticken Buddhismus und Taoismus da anders. Deshalb bin ich mit globalen Aussagen vorsichtig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“