Philosoph Gernot Böhme über Stadtklang: Eine Musik der Vielsprachigkeit
Wie nehmen wir die Geräusche unserer Umwelt wahr? Gernot Böhme plädiert für eine Kultur des neuen Hörens von Stadträumen.
taz: Herr Böhme, in Ihrem Essay „Anmutungen über das Atmosphärische“ machen Sie sich grundlegende Gedanken zum Klang der Stadt. Können Sie Atmosphäre als Begriff fassbar erklären?
Gernot Böhme: Ganz allgemein würde ich sagen: Atmosphäre ist ein gestimmter Raum, eben der Raum, insofern er einem eine bestimmte Befindlichkeit oder Stimmung vermittelt. Wie fühle ich mich in diesem Gebäude; wie fühle ich mich auf diesem Platz, in dieser Stadt. Natürlich hängt dies davon ab, wie der Ort um mich objektiv gestaltet ist. Und was sich dort abspielt. Befindlichkeit ist etwas Subjektives. Die Atmosphäre ist zwischen objektiven Daten und meiner Befindlichkeit. Ihr Spezifisches ist das, was beides miteinander vermittelt. Die akustische Atmosphäre ist eine wichtige Dimension davon.
Beeinflussen Klänge Stimmungen?
Klänge und Stimmungen hängen ganz intim zusammen. Das hat auch damit zu tun, dass man ihnen passiver ausgesetzt ist. Sehen ist ja ein viel aktiverer Akt als Hören. Es hängt auch damit zusammen, dass Klänge unmittelbarer unseren leiblichen Raum formen. Damit meine ich das Nach-draußen-hinaus-Spürende, das Leibgefühl, das in den Raum hinaus geht, aber auch durch den Raum eingeschränkt wird. Und die Klänge sind ein Medium, das unser leibliches Spüren ziemlich direkt beeinflusst.
Der Mystiker und Philosoph Jakob Böhme hat im 16. Jahrhundert postuliert: Die Welt ist ein großes Konzert. Wie verstehen Sie dies?
Wir verstehen die Welt ja als einen Zusammenhang von Wechselwirkungen. Das eine Ding wirkt auf das andere. Das sind also Energie- und Kraftwirkungen. Während Jakob Böhme daran gedacht hat, dass das eine Ding dem anderen Ding Signale gibt, und diese werden aufgenommen. Das heißt also, das Ding ist in der Welt vor allem durch seinen Ton und seinen Geruch, wie er sagt, und das wird von anderen aufgenommen. Vor allem über den Ton ergibt sich dann der Zusammenhang der Welt als großes Konzert aller Dinge.
geboren 1937. Studium der Mathematik, Physik und Philosophie. Seit 2005 ist er Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie an der TU Darmstadt. Bekannt wurde der Philosoph durch Arbeiten zur Ästhetik und zur praktischen Philosophie als Kompetenz der Lebensbewältigung.
Am Freitag, 17. Mai hält Gernot Böhme um 19 Uhr einen Vortrag zum Thema "Klang-Atmosphären in Stadt und Architektur" in der Akademie der Künste Berlin.
Wie klingt dann die Stadt?
Die Stadt ist natürlich ein Teil dieses Konzerts. Es wäre interessant, wenn wir an diesem Konzert mehr teilnehmen würden. Faktisch ist unser Leben anders eingerichtet. Wir hören im Alltag weg. Wir machen unsere Ohren zu oder stöpseln etwas anderes in sie hinein, um das, was draußen vor sich geht, nicht zu hören.
Die uns umgebenden Geräusche wurden schon in den sechziger Jahren in der E-Musik zu Musik verarbeitet, und sei es das Knarren einer Tür bei Pierre Henry.
Klänge haben ihre Frequenzen, haben ihre Tonqualitäten, aber sie können sich auch durch den Raum bewegen und können im Raum Figuren und Gestalten bilden. Duchamp hat bereits 1913 in einer Notiz von einer akustischen Skulptur gesprochen, und diese Idee einer akustischen Skulptur versucht zum Beispiel die Klangkunst heute zu realisieren. Hören ist immer auch ein räumlicher Vorgang. Selbst wenn man mit dem Kopfhörer lauscht, ist es so, dass das, was man hört, in einem akustischen Raum sich abspielt.
Vieles von dem, was Sie über die Anmutung von Klangräumen gesagt haben, findet in der Popmusik seit Langem statt. Sie wird mit bestimmten Halleffekten im Studio produziert.
Diese neue Auffassung von Musik als Raumkunst ist wesentlich durch die elektronische Technologie bestimmt. Das, worum es eigentlich geht, dass Töne Gebilde im Raum sind, kann man dadurch erst richtig analysieren und produzieren.
Können Sie mir zwei Beispiele geben für besondere städtische Klangarchitektur?
Alte italienische Innenstädte sind ziemlich steinern und fast so etwas wie Innenräume. Da ist es ein unglaubliches Vergnügen, vor allem am Abend, zu hören, wie die Menschen durch die Straßen gehen. Das Nordwest-Zentrum in Frankfurt ist ein sehr großes Einkaufszentrum mit sehr viel Binnenbegrünung. Dort spielen auch verschiedene Idiome eine Rolle. Wir leben ja inzwischen in einer multikulturellen Welt, das heißt eben auch Vielsprachigkeit. Wenn man dann durch die Wandelhalle geht, ist eine Musik der Vielsprachigkeit zu hören. Außerdem gibt es ein ausgeklügeltes Brunnensystem, für die Kinder ein großes Vergnügen.
In Malls werden Geräuschkulissen aber auch eingesetzt, um die Kundenströme zu leiten.
Auf jeden Fall. Das Ergebnis meiner Recherche war jedoch, dass ich sie unter der Überschrift „Flanieren in Shopping Malls“ zusammengefasst habe. Die Menschen gehen nicht nur zum Einkaufen in die Malls. Man muss akzeptieren, dass Shopping Malls heute ganz normale Lebensräume sind.
Es gibt ja auch den speziellen Klang von Naziarchitektur und die beispiellose propagandistische Ausnutzung von Klangräumen durch die Nazis. Lassen sich Klangräume vor Missbrauch schützen?
Teils warnend, teils hoffnungsvoll hat Walter Benjamin 1937 in seinem Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit darauf hingewiesen, dass er in jener Zeit eine Ästhetisierung der Politik und Politisierung der Ästhetik erlebt hat und das wirkt sich auch gerade kritisch auf die großen Inszenierungen aus, die die Nazis zu Propagandazwecken gemacht haben. Die waren Meister der Inszenierung von Klangatmosphären, und zwar zum Zwecke der Mobilisierung von Massen. Atmosphären sind nicht per se etwas Harmloses, Nettes, mit denen das menschliche Leben verbessert wird. Sie sind auch ein mögliches Instrument der Manipulation.
Wie stellen Sie sich die Klangatmosphäre einer Stadt der Zukunft als Idealbild vor?
Es ist gerade in diesem Bereich, wegen der rasanten Entwicklung von Technologie, gar nicht abzusehen, was noch auf uns zukommt. Deshalb möchte ich lieber bei der Frage bleiben, um was geht es in der Gegenwart. Ich würde hoffen, dass die Politik in Bezug auf den Klang der Städte und der Architektur nicht bloß beim Lärm und beim Dezibelwert stehen bleibt. Es muss viel mehr um den Charakter der Sounds gehen. Da gibt es viel positivere Gestaltungsmöglichkeiten. Lärm als solcher ist nicht das Übel, sondern es geht um die Frage: Was hören wir eigentlich. Vonseiten des Teilnehmenden würde ich sagen, dass hier ein neues Aufschließen gegenüber einem ästhetischen Raum angezeigt wäre. Das Lernen eines neuen Hörens. Ich kann das nur von mir selbst sagen, ich bewege mich anders in Räumen, weil ich inzwischen ein offeneres Ohr für sie habe.
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