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Phantasie an die Macht

2:0 - Sowjetunion überrennt Italien im Halbfinale / Pressestreik hält die schlechte Nachricht den Tifosi vor  ■  Aus Stuttgart Matti Lieske

Sehr großen Respekt zeigten sie nicht vor ihren Halbfinalkontrahenten, die Angehörigen der „aus der Asche der mexikanischen Expedition“ (Euro-Broschüre des italienischen Fußballverbandes) erstandenen neuen „squadra azzurra“, die einen Tag vor dem Spiel den Medien ausdauernd und freundlich Rede und Antwort standen.

Die Sowjets hätten keine Phantasie, verkündeten sie übereinstimmend, Torwart Dassajew „fange bei hohen Flanken Schmetterlinge“, meinte Mittelfeldregisseur Giannini; „sicher wird es bei einem solch destruktiv eingestellten Gegner kein schönes Spiel werden“, ergänzte Stürmer Vialli.

Doch die Sowjets waren im Vergleich zur Vorrunde nicht wiederzuerkennen, was auch bitter nötig war, denn auf solch unbedarfte Tölpel wie die englischen Abwehrspieler würden sie fortan nicht mehr treffen. Schon bei der Verkündung der Mannschaftsaufstellung gab es eine Überraschung.

Trainer Walerij Lobanowski hatte den Stürmerstar Belanow draußen gelassen, Protassow zur einzigen Spitze ernannt und dafür das Mittelfeld mit einer Unmenge von technisch begabten Haudegen angefüllt. Diese übernahmen dort sofort die Macht, und Essig war's mit der italienischen Phantasie.

Italiens so selbstbewußt ins Spiel gegangene Helden wußten bald nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand, so rasant verloren sie die Zweikämpfe oder lagen schnöde zu Boden gesenst auf der Erde. Kein Zentimeter Raum war ihnen vergönnt. Ihre Pässe mochten noch so genau, ihre Dribblings noch so vertrackt sein, immer war eine sowjetische Fußspitze dazwischen. Von ihren propagierten Stärken war wenig zu sehen.

„Ein Augenzwinkern reicht“, hatte der 19jährige Paolo Maldini stolz über die gesamtmailändische Abwehr erzählt, „und jeder weiß, wo er hinlaufen muß.“ In der Praxis sah das ganz anders aus. Zum Augenzwinkern kamen sie gar nicht, und hätte Libero Baresi nicht so resolut und glanzvoll die Löcher gestopft, die sich allerorten auftaten, es wäre noch böser gekommen für die Azzurri.

Der Angriff, „die schönste, unverzichtbare und unwiderstehliche Einrichtung eines Fußballhauses“ (besagte Broschüre), erwies sich als Torso, und der Torso hieß Vialli. Mancini, Donadoni, später Altobelli waren abgemeldet, und obwohl Giuseppe Giannini sich aufopfernd mühte, das Spiel in den Griff zu bekommen, stand er ziemlich allein auf enger Flur.

Anspielstationen waren rar, die versprochenen hohen Flanken für Dassajew blieben Mangelware. Und als der sich endlich doch anschickte, einen Schmetterling zu fangen, köpfte Vialli unbedrängt übers Tor. Wer solche Chancen im einem solch hochklassigen Spiel ausläßt, verliert.

Symptomatisch die Führung der UdSSR. Altobelli vertändelt in der 60. Minute im Mittelfeld den Ball, und schon ging die sowjetische Post ab, als sei ein Rudel Wölfe hinter ihr her. Litowtschenko bekam die erste klare Torchance für sein Team und nach kurzem Stochern lag der Ball im Netz.

Die Italiener waren noch vor Schreck erstarrt, da rauschte die transukrainische Eisenbahn zum zweitenmal an ihnen vorbei. Protassow erzielte in der 63. Minute routiniert das 2:0, sehr zum Entsetzen einer umfangreichen Kolonie von Streikbrechern auf der Tribüne.

Ohne ihre gewohnten Schreibblocks saßen die italienischen Reporter im Presseblock und durften sich einmal als ordinäre Tifosi fühlen. Wegen eines Journalistenstreiks erscheinen in den nächsten beiden Tagen in Italien keine Zeitungen. Besser hätten Vicinis Mannen ihr Ausscheiden kaum terminieren können.

Es gab noch ein kurzes Aufbäumen der Azzurri, eine weitere versiebte Chance von Vialli, und dann verschaffte der Schlußpfiff dem römischen Mittelfeldmotor mit Kolbenfresser, Carlo Ancelotti, viel Zeit, über einen von ihm vorher konstatierten „genetischen Fakt“ nachzudenken: „Brasilianer werden nur in Brasilien geboren. In der Sowjetunion kommen keine Meister der Technik zur Welt.“

Die waren gegen Italien auch nicht nötig. Den Sowjets reichte solides Kunsthandwerk von der allerfeinsten Sorte.(Was ist schon sozialistischer Realismus gegen liberale Neue Wilde in Verbindung mit südlichem Romantizismus am kommenden Samstag, Matti, - der Oranje-taz -Korr.)

ITALIEN: Zenga - Baresi - Bergomi, Ferri, Maldini (64. de Agostini) - Donadoni, de Napoli, Gianinni, Ancelotti Mancini (46.Altobelli), Vialli

UDSSR: Dassajew - Chidijatulin - Bessonow (36.Demjanenko), Kusnetzow - Aleinikow, Litowtschenko, Sawarow, Michailitschenko, Raz - Gotsmanow, Protassow

ORE: 1:0 Litowtschenko (60. Min.), 2:0 Protassow (63.)

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