Personenführung #190: Christian Semler: Der klügste Kopf der taz

Die Verkörperung der linken Geschichte und taz-Legende Christian Semler ist vor 10 Jahren gestorben. Eine Erinnerung.

Vietnam Kongress 1968 in der TU-Berlin Foto: Wolfgang Kunz

Von STEFAN REINECKE

taz Info, 13.02.23 | Er war einer der wichtigsten, prägendsten Redakteure, die die taz je hatte. Christian Semler ist vor zehn Jahren gestorben, am 13. Februar 2013. Er verkörperte linke Geschichte, inklusive der Abgründe. Eine Schlüsselfigur der 68er, zehn Jahre Maoist, Unterstützer der Dissidenten-Bewegung in Osteuropa, Osteuropa-Redakteur und dann der klügste Kopf der taz.

In der taz mochten ihn fast alle, weil er viel wusste und scharf dachte, ohne damit anzugeben. Sein Bedarf an Führungsposten war nach 10 Jahren Chef der KPD/AO gedeckt. Das Angebot, taz-Chefredakteur zu werden, lehnte er freundlich ab. Das machte ihn erst recht zur wahren Autorität der taz, ohne Hierarchiestützräder, nur ausgerüstet mit der Macht des besseren Argumentes.

Linksalternatives Staatsbegräbnis

Bei der Gedenkfeier in der Volksbühne waren 2013 fast tausend Leute. Es war eine Art linksalternatives Staatsbegräbnis.

„Wie nah sind uns manche Tote, doch wie tot sind uns manche, die leben“. Diese Zeile stammt von Wolf Biermann, der schon als jüngerer Mann per Du mit der Weltgeschichte war. Dieser Satz passte in die DDR, in deren heldenhafter Vergangenheitserzählung die kalte Gegenwart noch aschfahler schien. Aber diese Zeile strahlt über 1989 hinaus.

Was würde Christian Semler zum Ukrainekrieg, was zur wokeness in der taz sagen? Vermutlich würde er mit Interesse transgender Theorien studieren, mit Bleistift und Lineal zu kritisierende Sätze unterstreichen, aber nie plumpe Gegenaffekte bekräftigen. Noch anstrengender als wokeness-Fans sind ja ihre GegnerInnen.

Einig im Zweifel

Zehn Jahre Maoismus und die Erfahrung, dass auch hermetische Weltbilder irgendwann Ausgänge haben, hatten ihn weitherziger gegenüber eng konstruierten Ideengebäuden gemacht.

Über die Ukraine hätten wir uns vermutlich gestritten. Christian war noch in den Trümmern des Zweiten Weltkrieges groß geworden. Aber er hatte in den Jugoslawien-Kriegen angesichts der dortigen Schrecken für ein militärisches Eingreifen des Westens votiert. In mittlerer Tonlage, ohne donnernden Bellizismus.

Ich war skeptischer, weil mir die Kollateralschäden der gutgemeinten humanitären Intervention unkalkulierbar schienen. Wahrscheinlich hätte Christian, wie viele Ex-Maoisten, für mehr und schnellere Waffenlieferungen an die Ukraine argumentiert. Aber ohne den Blick darauf zu verengen. Wir hätten gestritten. Und wären einig in dem Zweifel gewesen, falsch liegen zu können.

Deutsch-polnische Verständigung

Vor zwei Wochen wurde Ruth Hennig, Christians Lebensgefährtin, beerdigt. Kalter Regen fiel aus dem grauen Montagshimmel auf den Friedhof bei der Greifswalder Straße, Berlin-Mitte. In einer kleinen Trauerhalle wurden Reden gehalten, eine von Zbigniew Czarnuch auf Polnisch.

Ruth hatte sich, wie viele Ex-Maoisten, nach 1980 für die Bürgerrechtsbewegung in Polen engagiert und 30 Jahre lang versucht, deutsch-polnische Verständigung zu fördern.

Die Trauerfeier, organisiert von Freundinnen von Ruth, war eine säkulare Feier, auf eine unangestrengte, ja leichte Art selbstverständlich. Christian hätte diese Beerdigung gefallen. Ganz sicher. Ruth ist fast genau zehn Jahre nach Christian gestorben. Begraben sind beide auf dem Georgen-Parochial-Friedhof, nebeneinander. Einen Steinwurf entfernt von ihrer früheren Wohnung.