: Perestroika braucht Trendforschung
■ Erstes sowjetisches Meinungsforschungsinstitut soll Kluft zwischen Führung und Volk verringern / Direktorin Saslawskaja fordert gesellschaftliche Transparenz / Massenmedien sollen Zugang zu Ergebnissen erhalten
Aus Moskau Alice Meyer
In der Sowjetunion wurde das erste Meinungsforschungszentrum gegründet. Es soll vom Zentralrat der Gewerkschaften sowie vom Staatskomitee für Arbeit und Soziale Fragen beaufsichtigt werden. Institutsdirektorin ist Tatjana Saslawskaja, führende Soziologin der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Sie war in letzter Zeit wiederholt mit scharfer Kritik an ungerechtfertigter Geheimhaltung stalinistischen Datenmaterials an der „Blindheit“ von politischem– und Verwaltungshandeln infolge Unkenntnis der Meinungen und Einstellungen im Volke sowie an der Unterentwicklung der Soziologie im Sowjetland hervorgetreten. Gegenüber der Presse nahm Tatjana Saslawskaja zu den Aufgaben der neuen Einrichtung mit dem Firmennamen „Allunionszentrum zur Erforschung der gesellschaftlichen Meinung zu sozial–ökonomischen Fragen“ (WZIOM) Stellung: Für ein „normales Funktionieren“ des Staates, der Volkswirtschaft, der sozialen Dienstleistungen, sowie zur Lösung „vieler aktueller Fragen des persönlichen und sozialen Lebens“ müsse endlich in einen Dialog mit der Bevölkerung eingetreten werden. Schon Lenin habe in seinen Arbeiten Anfang der zwanziger Jahre die Partei– und Staats organe dazu aufgerufen, Ansichten und Interessen der breiten werktätigen Massen zu erkunden. Das sei während der Perestroika notwendiger als je zuvor. Warnt das polnische Beispiel? Saslawskaja: „Die öffentliche Meinung trägt emotionalen Charakter. Sie entsteht spontan–elementar, und sie kann in bestimmtem Maße gesteuert, gelenkt werden...“ Durch Meinungsforschung lasse sich auch das Risiko vermindern, bei staatlichen Maßnahmen „auf negative Reaktionen der Bevölkerung zu stoßen“. Die Soziologin läßt durchblicken, daß die künftigen einschneidenden Veränderungen im Preis– und Lohngefüge durch Umfragetätigkeit flankierend abgesichert werden sollen. Die Einrichtung habe die Aufgabe, die Bevölkerungsmeinung zu sozial–ökonomischen Fragen zu erforschen. Hier seien die Gewerkschaften und das Staatskomitee für Arbeit hauptzuständig. Auftragsforschung aus der Wirtschaft im Zusammenhang mit der Einführung neuer Massenkonsumartikel könne später hinzukommen. Es sind, so Saslawskaja, zunächst zehn bis zwölf Umfrage–Aktionen pro Jahr geplant. Vorgesehenes Thema der ersten Enquete: „Probleme der Wählbarkeit von Wirtschaftsleitern im System der Produktionsselbstverwaltung.“ Die Umfrageergebnisse sollen den sowjetischen Massenmedien in vollem Umfang zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus will das Zentrum eigene Publikationen herausgeben. Sitz der Einrichtung ist Moskau. In den Hauptstädten der Unionsrepubliken werden Zweigstellen gegründet, ebenso in ungefähr zehn sonstigen Großstädten. Das WZIOM soll dann 180 Mitarbeiter haben. „Wunder Punkt“ ist das Sprachenproblem. Es gibt in der Sowjetunion 15 Nationalsprachen sowie rund 100 weitere Sprachen von Völkern und Nationalitäten. Da das Zentrum seinen Aufsichtsbehörden schnelle Zuarbeit leisten soll, wird zumindest in der Startphase die einzige Erhebungssprache Russisch sein.
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