: Patientenversorgung in der Charité gefährdet
■ Kündigungswelle von Schwestern und Ärzten hält seit einem Jahr an/ Ursache ist der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst
Berlin. Zu DDR-Zeiten war die Charité, Ost-Berlins größte Klinik, das Prunk- und Renommierstück staatlicher Gesundheitsfürsorge. Inzwischen müssen Ärzte und Pflegepersonal täglich immer größere Anstrengungen unternehmen, um die Krankenversorgung aufrechtzuerhalten, denn seit einem Jahr grassiert in der Charité eine regelrechte Kündigungswelle. Vor allem qualifizierte Schwestern und Pfleger, seit einiger Zeit aber auch mehr Ärzte und Wissenschaftler, verlassen die Uni-Klinik in Richtung Westen.
Für Marlis Scheunemann, Pressesprecherin der Klinik, ist es keine Frage mehr, daß die medizinische Grundversorgung unter diesen Umständen nicht mehr lange gesichert werden kann. »Die Patientenbetreuung hat bereits einen Knacks erhalten, und der wird ständig größer.« Ursache dieser »dramatischen Entwicklung« sei der seit Mitte letzten Jahres geltende Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst. Demzufolge bekommen die Bediensteten in den neuen Bundesländern lediglich 60 Prozent des im Westen üblichen Gehalts, und sie werden ein bis zwei Stufen unterhalb ihrer tatsächlichen Qualifikation und Berufsjahre eingruppiert.
Durch einen Wechsel nach West- Berlin oder in die Altbundesländer ist schnell das Doppelte oder gar mehr zu verdienen. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten bleibe Schwestern und Pflegern mit Familie mitunter gar keine andere Wahl, so Frau Scheunemann. Die verbleibenden Bediensteten sind bemüht, dem Druck durch Überstunden und zusätzlichen Wochenenddiensten halbwegs standzuhalten. Trotzdem können in der Charité zur Zeit nur 65 Prozent der Bettenkapazität belegt werden. An eine schnelle Besserung glaubt Frau Scheunemann ebensowenig wie die Leiterin des Pflegedienstes, Ingeborg Graße. Sie verweist auf ihr Zahlenmaterial. Von etwa 1.600 Planstellen sind 160 Stellen überhaupt nicht und weitere 60 Stellen durch Hilfskräfte besetzt. Insgesamt fehlen in der Charité über 200 Schwestern und Pfleger.
Den 252 Kündigungen aus dem Jahr 1991 stehen zwar 288 Neueinstellungen gegenüber, aber die Zahlen trügen. Es sind hauptsächlich qualifizierte Kräfte aus dem OP- und Intensivpflegebereich, die die Klinik verlassen, an ihre Stelle kommen überwiegend Berufsanfänger, die zunächst eingearbeitet werden müssen. Der Anteil an besonders ausgebildeten Fachkräften, so Frau Graße, ist in den letzten zwei Jahren von 71 Prozent auf 6 Prozent gesunken.
Neben der Mehrarbeit durch Personalmangel und ständige Einarbeitung neuer Mitarbeiter macht sich zunehmend psychischer Druck bemerkbar. Durch die niedrigeren Gehaltsstufen und die Nichtanerkennung der zu DDR-Zeiten geleisteten Dienstzeiten fühlen Schwestern und Pfleger sich und ihre Arbeit oft entwertet. Auch das ist für viele ein Grund zum Wechseln.
Um die massenhafte Abwanderung der Ostler zu stoppen, fordern Politiker, Gewerkschafter und Funktionäre der Ärztekammer eine rasche Anhebung der Löhne sowie die Anerkennung der vorher geleisteten Dienstzeiten. Frau Scheunemann zeigt sich davon wenig beeindruckt. »Lippenbekenntnisse helfen uns nicht«, meint die Charité-Sprecherin, sie fordert Taten.
Welche Folgen die bedrohliche Situation der Ostberliner Kliniken haben könnte, zeigt Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, auf. »Wenn nicht bald etwas geschieht, gehen nach den Schwestern auch die Patienten.« Hans Nibbrig (dpa)
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