: Parteiloser soll Bulgarien regieren
■ Parlament will sämtliche Abgeordnete auf eine mögliche Mitarbeit in der früheren Staatssicherheit hin überprüfen
Sofia (dpa/ap/afp) — Der parteilose stellvertretende Parlamentspräsident Ginjo Ganew wird neuer bulgarischer Regierungschef und damit die Nachfolge des in der letzten Woche von diesem Amt zurückgetretenen Sozialisten Andrej Lukanow antreten. Das berichtete der Rundfunk in Sofia am Mittwoch. Danach haben sich die sozialistische Mehrheitsfraktion und die Opposition außerdem darauf geeinigt, jeweils vier Minister in das Kabinett des 62jährigen Ganew zu entsenden. Die offizielle Bauernpartei, die jahrzehntelang mit den ehemaligen Kommunisten (heute Sozialisten) verbunden war, soll drei Ministerposten erhalten. Ganew, der seit 1977 in der alten Massenorganisation Vaterländische Front gearbeitet hatte, genießt heute bei allen Parteien hohes Ansehen.
Das Parlament hat nach dem Skandal um die angebliche Spitzeltätigkeit von Peter Beron, der vorgestern vom Partei- und Fraktionsvorsitz der Oppositionsallianz UDK zurückgetreten ist, jetzt Akten von allen Abgeordneten angefordert, die „hauptamtliche oder nebenberufliche Mitarbeiter“ des Geheimdienstes waren. Das Innenministerium wurde verpflichtet, innerhalb einer Woche die Unterlagen einer parlamentarischen Sonderkommission zu übergeben. Wenige Stunden zuvor hatte der Vorsitzende der oppositionellen Gewerkschaft „Podkrepa“, Konstantin Trentschew, erklärt, seine Organisation habe eine Liste mit den Namen von 71 Parlamentsabgeordneten, die Mitarbeiter der ehemaligen Staatssicherheit gewesen seien. Einer von ihnen sei Beron.
Beron hat inzwischen bestritten, für die berüchtigte Abteilung sechs des Geheimdienstes — die sogenannte „Gedankenpolizei“ — gearbeitet zu haben. Als Leiter einer Abteilung des Museums für Naturgeschichte habe er lediglich der Polizei über ausländische Besucher und über seine eigenen Auslandsreisen Bericht erstattet. „Es ist absolut unwahr, daß ich die Geheimpolizei über Dissidenten informiert habe“, sagte Beron. Berater des zurückgetretenen Oppositionschefs hatten angegeben, im Besitz von Papieren zu sein, die die Vorwürfe belegen würden. Im Gegensatz zu denjenigen, die ihn jetzt anklagen würden, meinte Beron, sei er nie Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen.
Die Staatsanwaltschaft hat am Mittwoch Verfahren gegen frühere kommunistische Spitzenfunktionäre eingeleitet. Sie werden beschuldigt, „Verträge zum Schaden für Bulgarien in Höhe von vielen Millionen Dollar“ abgeschlossen zu haben. So soll der ehemalige Wirtschaftsminister Ognjan Dojnow Disketten im Wert von drei Millionen Dollar eingeführt haben, die auch heute noch nicht genutzt werden. Emil Hristow soll als ZK-Sekretär für den Import einer kompletten Fabrik im Werte von 18 Millionen Dollar verantwortlich sein, die nie ihre Tore öffnete.
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