: Parteibasis schwimmt gegen den Strom
■ SPD-Nachwuchspolitiker in Hannover beharren auf dem Grundrecht auf Asyl: Anstelle der zahlreichen Austritte SPD-verdrossener Mitglieder sähen sie lieber die Lotsen der neuen Kursänderung von Bord gehen
Die Petersberger Beschlüsse waren gerade acht Tage alt, da schritten die Juso-Arbeitsgemeinschaften aus Hannover und dessen Umland zur Tat: Unter dem Motto „Wir bleiben drin — Engholm geht“ besetzten sie das SPD-Haus in der hannoverschen Odeonstraße, in dem der niedersächsische SPD-Landesverband und auch der mitgliederstarke SPD-Bezirk Hannover ihre Räumlichkeiten haben. „Schärfsten Protest“ meldeten die Jungsozialisten gegen die Änderung des Grundrechts auf Asyl an, gegen den „rechts-opportunistischen Populismus“, auf den Teile der SPD-Führung eingeschwenkt seien. An Stelle der Kursänderung wollten die jungen Sozialdemokraten lieber die Parteiaustritte von Engholm, Klose, Blessing und des niedersächsischen SPD-Landesvorsitzenden Johann Bruns in Kauf nehmen. Nach drei Stunden war die Besetzung zu Ende, nur den Absturz seiner EDV-Anlage hatte der hannoversche SPD-Bezirk zu beklagen — die Jusos hatten den Strom im Hause abgedreht.
Auch der Vorsitzende des SPD- Unterbezirks Hannover Stadt, Stephan Weil, ist mit seinen 33 Jahren durchaus noch im Juso-Alter, und auch er will das Grundrecht auf Asyl verteidigen. Doch am vergangenen Donnerstag hatte er es wieder einmal schwer damit. Der Zorn über vermeintliche oder tatsächliche Belästigungen entlud sich auf einer Veranstaltung mit 150 Anwohnern einer Flüchtlingsunterkunft am hannoverschen Nordring, wo etwa 1.400 Asylsuchende untergebracht sind — zum größeren Teil in Zelten des Roten Kreuzes. Die Gruppe organisierter „Nationalisten“, die die Veranstaltung als Forum für ihre Überflutungs-Propaganda nutzte, konnte da heftigen Beifall der Anwohner einheimsen. Der junge SPD-Politiker und einige seiner GenossInnen warben für eine Verständigung mit den Flüchtlingen, übten aber auch Selbstkritik. Es sei ein Fehler der Stadt Hannover, gerade die Viertel der sozial Schwachen und kaum die reichen Stadtviertel direkt mit den Flüchtlingen zu konfrontieren, sagte der junge SPD-Politiker. Seiner Meinung nach sind „die Leute in der Nachbarschaft völlig überfordert“.
Größte Austrittswelle seit Nato-Beschlüssen
Neu sind solche Diskussionen, „in denen Bürger ihren Unmut ablassen und in die sich dann auch organisierte Rechtsradikale einmischen“, für Stephan Weil schon lange nicht mehr. An Ständen der SPD in der Stadt seien solche Debatten eher die Regel, und der SPD-Kommunalpolitiker muß sie gerade mit Leuten führen, die bisher „eher SPD als CDU gewählt haben“. Den Artikel 16 des Grundgesetzes verteidigt der SPD- Chef von Hannover Stadt dabei nicht nur aus prinzipiellen, sondern auch aus strategisch-taktischen Gründen. Auch nach einer Änderung des Artikel 16 werde die Zuwanderung anhalten; die nächste Enttäuschung, von der wieder nur die Rechtsradikalen profitierten, sei programmiert.
Nicht nur bei der SPD Hannover Stadt, auch beim übergeordneten hannoverschen SPD-Bezirk gehen jetzt Parteiaustrittserklärungen ein, die von der SPD schlicht die Abschaffung des Asylrechts fordern — und gleichzeitig andere, die eine unbedingte Verteidigung des Grundrechts vermissen. Der Geschäftsführer des 50.000 Mitglieder zählenden SPD-Bezirks, Heino Wiese, hatte in den letzten Monaten einen Mitgliederverlust von zwei Prozent zu verzeichnen. Damit stehe er zwar immer noch besser da als viele andere SPD- Bezirke. Doch das sei die „größte Austrittswelle seit dem Nato-Doppelbeschluß“. Rund die Hälfte dieser Austritte wird explizit damit begründet, daß „die SPD das Asylproblem nicht in den Griff bekommt“. Nach den Petersberger Beschlüssen hat aber auch ein rundes Dutzend „durchaus exponierter Leute“ die Partei wegen des Schwenks in der Asylpolitik verlassen.
Bei ihrer Besetzung des SPD- Hauptquartiers haben die Jungsozialisten den Vorsitzenden des hannoverschen SPD-Bezirks gleich von der Kritik ausgenommen. Ihr Protest richte sich nicht gegen Gerhard Schröder, hieß es in der Erklärung. Schließlich machten sich nach Petersberg sowohl Schröders hannoverscher Bezirk als auch der SPD- Bezirk Nord-Niedersachsen für einen Sonderparteitag stark. Aber auch Gerhard Schröder schließt eine Änderung des Artikels 16 prinzipiell schon länger nicht mehr aus. Schröder will sie allerdings, wenn überhaupt, in einer Form, die die Sozialdemokraten tatsächlich aus der Klemme zwischen dem Rumoren an der Parteibasis und dem Druck von Union und Springerpresse herausbringt. Erstmal, so Schröder am vergangenen Donnerstag, müsse man sagen, was man will, und dann fragen, „ob man die Verfassung dafür ändern muß“. Schröder will eine gesteuerte Zuwanderungspolitik, die den Druck von seiner Partei nimmt. Dies beinhaltet die wechselseitige Anerkennung rechtsstaatlicher Asylentscheidungen auf europäischer Ebene, ein Einwanderungsgesetz und einen Sonderstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge, der diese vom Asylverfahren ausschließt. Ob für diese konkreten Vorhaben eine Grundgesetzänderung notwendig sei, das müsse eben noch geprüft werden, heißt es in der niedersächsischen Staatskanzlei. Jürgen Voges, Hannover
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