: Parlament gestärkt
■ Kongreß der Volksdeputierten trotzt Gorbatschow bei Regelung über Ausnahmezustand
Es gibt sie ja immer noch, die Zeitgenossen, die zusammenzucken, angesichts der Ereignisse in der Sowjetunion. Der Gedanke, das Riesenreich könnte zerfallen und in Chaos versinken, läßt manche erschaudern. Die Schreckensszenarien jedoch verlieren an Bedeutung. Denn das Erstaunliche findet statt. Das im Laufe der Perestroika entwickelte Gefüge der Legislative beginnt sich zu bewähren. Obwohl die jetzt tagenden Volksdeputierten im vorigen Jahr zum großen Teil noch nach dem alten Wahlrecht - das dem Parteiapparat noch großen Spielraum für Manipulationen bot gewählt wurden und somit die Meinungen in der Gesellschaft nur unvollkommen widerspiegeln - hat eine starke Minderheit in der Frage der Macht des Präsidenten und des Wahlrechts Rückgrat bewiesen. Die aufrüttelnde Rede des Historikers Afanasjew war am Montag dafür nur der Auftakt.
Wenn jetzt der Oberste Sowjet mit einer Zweidrittelmehrheit die Verhängung des Ausnahmezustands in einer der Republiken bestätigen muß, sind die Rechte des künftigen Präsidenten in einem entscheidenden Punkt eingeschränkt. Das Risiko, in Litauen oder den anderen auf Selbständigkeit drängenden Republiken mit staatlichen Gewaltmaßnahmen vorzugehen, wird so verringert. Und auch die Regelung, das Oberste Gericht vom Staatsoberhaupt unabhängig zu machen, ist für die liberale Deputiertengruppe ein Erfolg.
Zwar ist es ihr nicht gelungen, die Direktwahl des Präsidenten durchzusetzen. Aber in der Frage, ob dem Präsidenten erlaubt sein solle, noch andere hohe (Partei-) Ämter zu bekleiden, scheiterten die Opponenten nur knapp. Gorbatschow wird als Präsident und Parteichef zugleich weiterhin die überragende Rolle spielen. Doch indem Gorbatschow Wort gehalten und die Streichung der Artikel 6 und 7 der Verfassung, die den Weg für ein Mehrparteiensystem freimacht, trotz aller Widerstände in der Partei durchgesetzt hat, ist das institutionelle Gefüge der Sowjetunion grundlegend demokratisiert worden. Gorbatschow hat bei den Debatten der letzten Wochen und Monate auch bewiesen, daß er allen Anwürfen, ein diktatorisches Gehabe zu entwickeln, zum Trotz in den entscheidenden Momenten die Hindernisse zu beseitigen weiß. Auch in bezug auf Litauen ist zu wünschen, daß diese Handlungsweise deutlich wird. Bleibt Gorbatschow sich treu, werden nach den ersten harschen Worten Übergangsregelungen ausgearbeitet werden.
Erich Rathfelder
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