: Pädagogen an die Front
Die Präsentation des Egon Krenz als neuem Generalsekretär ■ K O M M E N T A R
Die Ansprache, mit der Egon Krenz sich der aufbegehrenden DDR-Bevölkerung als neuer „Erster“ vorgestellt hat, zeigte zweierlei: daß er lesen kann und daß er ein miserabler Redner ist. Beides müßte ihn als Politiker nicht disqualifizieren. Doch der Duktus seiner Rede war kein politischer, sondern ein pädagogischer. Krenz ist der Ausbildung nach Lehrer. Obwohl er den Beruf kaum ausgeübt hat, scheint einiges hängengeblieben zu sein.
Er las eine geschlagene Stunde lang den Text seiner Ansprache so, wie ein Gesellschaftskundelehrer mit heimlicher Liebe zum Theater einen Kommentar zur Verfassung oder ähnlich spannende Lektüre präsentieren würde: Überdeutliche Betonungen, die an unfreiwillige Komik grenzen, und ein künstliches Pathos, das die Unaufmerksamkeit der Zuhörer bereits resigniert in Kauf genommen hat. Es fehlte auch nicht der Versuch, die Aufmerksamkeit durch direkte Ansprache zurückzugewinnen. Immer wieder die Formel „Wir wenden uns an...“. Und dann wandte er sich an die Arbeiter, die Intelligenz, die Forstarbeiter, die Frauen, die Alten und Jungen - keinem hatte er etwas Substantielles zu sagen.
Man würde Krenz allerdings unrecht tun, wenn man die Betrachtung der ästhetischen Seite der Sache allein auf seine individuelle Sozialisation beschränken würde. Er ist der Kandidat des Apparates und dieser Apparat versteht sich selbst als Vormund des unmündigen Volkes. Ein Pädagoge an der Spitze dieses Apparates - das ist eine durchaus konsequente Wahl in einer Situation, da er mit seinem Latein am Ende ist.
Inhalt und Form entsprachen einander. Da die Wahl von Krenz vom alten Politbüro offenkundig durchgepowert worden ist bevor irgendwelche inhaltlichen Entscheidungen über eine Kurskorrektur gefällt wurden, konnte er im wesentlichen nur Plattitüden von sich geben.
Gewiß - es gab verhaltene Kritik an der alten Uneinsichtigkeit und Verdrängungspolitik, es gab vorsichtige Andeutungen darüber, in welcher Richtung Änderungen zu erhoffen seien: Reisemöglichkeiten, Wirtschafts- und Versorgungspolitik, Medienpolitik. Aber es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, daß diese neue Parteiführung begriffen hätte, was die DDR den Aktivisten in den Gruppen, den Pfarrern, den Künstlern und Schriftstellern, den Demonstranten verdankt: Daß dieses erstarrte System in Bewegung geraten ist und vielleicht eine neue Chance hat, sich zu einer Gesellschaft zu entwickeln, die wirklich eine Alternative zur kapitalistischen Bundesrepublik sein könnte. Ob sich Krenz in seinen neuen Funktionen diesen Entscheidungen wenigstens nicht allzusehr in den Weg stellen wird - wir wissen es nicht.
Die Entscheidung liegt auch nicht bei ihm oder bei denjenigen, die er repräsentiert. Sie hängt davon ab, ob auf den Straßen, in den Betriebs- und in Parteiversammlungen, in den Künstlerverbänden und den Hochschulen sowie an vielen anderen Orten genügend Druck gemacht wird, daß unabweisbar wird: Pädagogik genügt nicht mehr. Es muß anders gehandelt werden.
Walter Süß
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