: „Packt was ein, ihr kommt mit“
Herman Singer ist einer der letzten Überlebenden von 80 Bremer JüdInnen, die 1938 von den Nazis nach Polen deportiert wurden. Heute Abend ist er im Rathaus Ehrengast bei der „Nacht der Jugend“
HERMAN SINGER, 87, wurde in Sebaldsbrück geboren und 1938 nach Polen ausgewiesen. Heute lebt er in Stockholm.
Interview: CHRISTIAN JAKOB
taz: Herr Singer, Sie sind nach Ihrer Deportation 60 Jahre nicht in Deutschland gewesen. Warum sind Sie schließlich doch noch gekommen?
Herman Singer: Mein letzter Besuch war im Mai diesen Jahres. Da war ich hier, um mir die Gedenksteine anzusehen, die für meine Eltern dort ins Pflaster eingelassen wurden, wo früher unser Haus in der Sebaldsbrücker Heerstraße stand. Das Haus gibt es heute nicht mehr. Mein erster Besuch war 1999. Damals hat mich der Bremer Senat eingeladen. In den 80er und 90er Jahren wurden Gruppen ehemaliger jüdischer Bürger Bremens, die von den Nazis vertrieben wurden, hierher eingeladen. Meine Gruppe war die letzte. Diese Besuche sind eingestellt worden, weil es nur noch wenige Überlebende gibt.
Wären Sie auch ohne eine Einladung gekommen?
Das ist im Nachhinein schwierig zu sagen. Früher oder später, mit dem Alter, wäre ich vielleicht schon gekommen.
Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?
Ich hatte über Jahrzehnte eine sehr negative, abweisende Haltung zu Deutschland. Das hat sich geändert, als ich hierher gereist bin. Von dem was jetzt hier passiert, habe ich einen sehr positiven Eindruck.
Haben Sie heute in Deutschland Antisemitismus wahrgenommen?
Nein. Ich war immer nur sehr kurz hier und bin dabei nur Menschen begegnet, die den Kontakt zu mir gesucht haben. Über den Antisemitismus in Deutschland weiß ich sehr wenig.
Ihre Familie wurde 1938 aus Bremen deportiert. Was genau ist damals geschehen?
Ich war 18 und lebte als einziges von acht Geschwistern noch zu Hause. Zu der Zeit habe ich im Eisenwarengeschäft meiner Eltern in Sebaldsbrück gearbeitet. Am 28. Oktober 1938 ist die Kriminalpolizei – nicht die Gestapo – zu uns gekommen. „Packt was ein, dann kommt ihr mit,“ haben sie gesagt. Dafür hatten wir nur ein paar Minuten Zeit. Zwei Nächte waren wir in Untersuchungshaft in der Ostertorwache. Dann hat man uns mit 80 anderen Jüdinnen und Juden aus Bremen in Zugwaggons gesteckt. Das waren keine Viehwaggons, sondern normale Dritte-Klasse-Waggons. Die wurden verplombt und sind dann nach Polen gefahren. Unser Geschäft ist zwei Wochen später bei der Reichspogromnacht zerstört worden. Ich bin mit meinen Eltern nach Chrzanów in Südpolen gekommen. Dabei haben wir noch Glück gehabt. Es gab auch Ausgewiesene, die über die Grenze zurück in die Hände der SS getrieben wurden.
Hatten Sie damit gerechnet, dass so etwas passieren würde?
Nein, das war eine Überraschung. Viele Juden hätten sicher überlebt, wenn man das vorher geahnt hätte. Dabei ging der Terror schon 1933 los, als sich die Braunen vor die jüdischen Geschäfte gestellt und die Kunden vertrieben haben. Niemand konnte sich vorstellen, dass es so weitergehen würde. Ich selber war noch zu jung, um das richtig einzuschätzen. Hastedt und Sebaldsbrück waren Arbeiterstadtteile. Die Eltern vieler meiner Schulkameraden waren Kommunisten und Sozialdemokraten. Nach und nach kamen immer mehr von ihnen in Haft. Ihre Kinder, meine ehemaligen Freunde, waren oft überzeugte Nazis und verachteten ihre liberalen Eltern.
Gab es Angriffe auf das Geschäft Ihrer Eltern?
Nein, wir hatten Glück. Aber es blieben immer mehr Kunden weg. Man hat gespürt, wie man ärmer wurde. Man wurde gesellschaftlich isoliert, hat sich immer mehr nur in jüdischen Kreisen bewegt. Ich habe viel Zeit in dem jüdischen Sportclub „Makkabi“ verbracht. Wir hatten beim Stadion am Osterdeich einen Fußballplatz, auf dem wir bis 1936 oder 1937 spielen durften.
Wie war Ihre Situation in Polen?
Ich war jung und konnte kein Polnisch. Der Antisemitismus dort war sehr stark, es gab Pogrome in Krakau und ich näherte mich dem Militäralter. Also habe ich mich im Sommer 1939 illegal durch militärisches Sperrgebiet nach Reval durchgeschlagen. Von dort bin ich als blinder Passagier mit dem Schiff nach Schweden gefahren.
Fühlten Sie sich dort willkommen?
Beim ersten Mal haben sie mich zurück geschickt. Beim zweiten Mal, nach Kriegsbeginn, kam ich zwei Monate in U-Haft, durfte dann aber bleiben. Ich war sozusagen geduldet und habe als Bauernknecht gearbeitet. Die ganzen Jahre saß ich wie auf heißen Kohlen, immer mit der Angst, dass die Deutschen am Ende doch in Schweden einmarschieren. Das blieb bis Stalingrad so. Danach glaubte niemand mehr, dass die Nazis noch kommen würden. Zu diesem Zeitpunkt ist auch die Sympathie vieler Schweden für den Nazismus gekippt.
Was ist mit Ihren Eltern geschehen?
Ich hatte bis Sommer 1941 Briefkontakt zu ihnen. Dann aber ist ein Brief an sie wieder zurückgekommen. Auf dem Umschlag war ein Stempel: „Adressat unbekannt“. Da wusste ich, was passiert war. Chrzanów ist nur zwanzig Kilometer von Auschwitz entfernt. Man hat keine Listeneinträge über sie gefunden. Das kann daran liegen, dass sie schon so alt waren, dass man ihnen gar nicht erst eine Nummer gegeben hat. Es ist auch möglich, dass sie ins Warschauer Ghetto gebracht und dort getötet wurden. Dort sind wohl auch zwei meiner Schwestern und ihre Familien umgebracht worden.
Wie ging es nach dem Krieg für Sie weiter?
In den 50er Jahren wurde ich eingebürgert. Erst habe ich als Laufbursche gearbeitet, später im Lazarett. Am Ende war ich ein Bürokrat in der Gesundheitsverwaltung. Ich habe geheiratet, wir hatten aber keine Kinder. Ich und meine Frau haben in Stockholm gelebt.
Wie begegnet man dort JüdInnen?
Natürlich gibt es dort auch einen, wenn auch kultivierten, Antisemitismus. Heute sagt keiner mehr: „Du bist zwar eine Ausnahme, aber mit den Juden ist das ja so und so.“ Das war früher. Heute ist es anders. Da vermeiden die Leute zum Beispiel, mit mir über Israel zu reden.
Warum?
Ich habe Verständnis für die Abscheu der Schweden gegen die Okkupation. Darüber kann man reden, auch wenn ich das anders sehe. Aber ich mag es nicht, wenn die Leute mir gegenüber dazu schweigen. Das ist wie eine Kapitulation.
Was denken Sie über Israel?
Ich sehe Israel sehr positiv. Mein Bruder lebt dort. Das jüdische Leben wäre heute ohne Israel ganz anders. Nach dem Fall der Mauer sind sehr viele Juden aus Osteuropa nach Israel übergesiedelt. In Osteuropa ist der Antisemitismus sehr stark ausgeprägt.
Kam je für Sie in Frage, dort zu leben?
Ich habe nie daran gedacht, nach Israel zu ziehen, ich war nie ein Zionist. Im Alter wollten ich und meine Frau schon gerne in den Süden, nach Spanien vielleicht, wegen der Sonne. Aber das haben wir dann doch nicht gemacht. Mir hätten die vier Jahreszeiten gefehlt.