PREDIGTKRITIK: Umsonst ist mehr...
■ in Sankt Canisius, Charlottenburg
Als hätte Jesus es geahnt: Im Evangelium dieses Sonntags nach Lucas wird er zu einer Hochzeit bei einem Pharisäer eingeladen und läßt das Wort fallen: »Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.« Es geht um die Platzordnung an der Hochzeitstafel, »diese Szene läßt sich doch gut vorstellen«, beginnt der Geistliche und schweigt eine Minute, damit sich alle das Bild ins Gedächtnis holen können. Bedächtig redet er dann weiter, leierig zwischen betonter Lockerheit und der Wiederentdeckung der Langsamkeit. Schon fühlt man sich in dem raupenförmigen Betonbau der St.-Canisius-Kirche aus den fünfziger Jahren wie in einem arabischen Haus: Es ist halbdunkel, von draußen knallt die Sonne durch ein paar schlitzförmige Öffnungen ins Innere, wo auf einem wackligen Tisch Berge von Essen lagern. In einer Ecke sitzt Jesus und hält Reden. Ja, er übt Kritik an dem Pharisäer, obwohl er doch nur Gast ist, sagt der Geistliche: daß der Pharisäer nicht immer nur die seines Standes einladen soll, die ihn auch einladen, und er hätte viel mehr Spaß an seinem Fest, wenn er auch
mal ein paar arme Leute einlüde. Szenenwechsel in ein Neubaugebiet mit Plattenbauten und kargen Grünflächen: »Hat dieses Evangelium etwas mit Rostock zu tun?« Der Geistliche weiß die Antwort: »Selbstverständlich.« Gewalt führe nicht zur Seligkeit, die nämlich sei umsonst. Wobei nicht jeder so radikal hinter ihr hersein müsse wie Jesus. Der Pharisäer solle ruhig seine Verwandten und Freunde einladen, aber trotzdem die anderen nicht vergessen, die es nicht geschafft haben. »Frieden für alle« laute das Motto, und niemand solle ausgeschlossen sein, nicht aus der kirchlichen Gemeinschaft und nicht aus der Gesellschaft: »Teile, was gewonnen wird.« Das gelte nicht nur für ein bestimmtes Land, sondern im biblischen Sinne für die ganze Welt. Vor diesem erschreckenden Hintergrund drängten bei den Menschen immer wieder die Gefühle von Habenwollen und Mehr durch. Jesus aber wollte das Fest für alle, denn nichts sei schöner, als etwas umsonst zu tun oder zu geben. Nicht nehmen, sondern geben macht selig, und das sagt sich sehr schön in Charlottenburgs bester Wohnlage direkt am Ufer des Lietzensees. Lutz Ehrlich
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