: P O R T R A I T Die türkische Sozialdemokratie in der Krise
■ Nach dem Rücktritt von Parteichef Erdal Inönü ist die türkische „Sozialdemokratische Volkspartei“ jetzt ohne „Integrationsfigur“ / Die heterogene Parteistruktur führte immer wieder zum Richtungsstreit
Der Parteivorsitzende der stärksten türkischen Oppositionspartei, der „Sozialdemokratischen Volkspartei“, Erdal Inönü, ist von seinem Amt zurückgetreten. In der darauffolgenden Parteivorstandssitzung legten der gesamte Parteivorstand und der Generalsekretär Fikri Saglar ihre Posten nieder. Mit Mühe und Not gelang es sozialdemokratischen Abgeordneten, Inönü von seiner Entscheidung abzubringen, auch sein Abgeordnetenmandat niederzulegen. Die einsam getroffene Entscheidung Inönüs versetzte nicht umsonst die Parteimitglieder in Panikstimmung. Denn der ehemalige Universitätsrektor Erdal Inönü war eine ideale Kompromißfigur in der von Richtungskämpfen krisengeschüttelten Partei. Inönü war im Vorfeld der von den Militärs organisierten Wahlen 1983 zum Vorsitzenden einer sozialdemokratischen Partei gekürt worden. Kaum jemand glaubte damals, daß die Militärs die Partei des honorigen Universitätsprofessors, der bis dahin abseits der Ta gespolitik stand und außerdem Sohn des legendären Kampfgefährten Atatürks, Ismet Inönü, war, nicht zu den Wahlen zulassen würden. Die Rechnung der Sozialdemokaten ging nicht auf. Die Partei wurde nicht zu den Wahlen zugelassen. Erst mit dem Rückzug des Militärs aus dem unmittelbaren politischen Wirken eröffneten sich den Sozialdemokraten freiere Betätigungsmöglichkeiten. Während der ehemalige sozialdemokratische Premier, Bülent Ecevit, eine straff geführte, antikommunistische Partei gegründet hatte, der nur eine geringe Bedeutung zukam, entwickelte die „Sozialdemokratische Volkspartei“ unter ihrem Vorsitzenden Inönü ein lebendiges innerparteiliches Leben. Einerseits integrierte die Partei die alten Führungskader aus der Vor–Putsch–Ära, zum anderen wurde sie Sammelbecken der gesellschaftlichen Opposition gegen das Militärregime. In der legalen Partei sammelten sich linke Gewerkschafter ebenso wie Familienangehörige politischer Gefangener. Die heterogene Struktur der Partei führte daher stets zu scharfen innerparteilichen Auseinandersetzungen. Ihnen war selbst der Kompromißler Inönü am Ende nicht mehr gewachsen. Die Parlamentsrede des sozialdemokratischen Abgeordneten Mehmet Ali Eren, der offen die Probleme der kurdischen Minderheit benannte, und der Hungerstreik sozialdemokratischer Abgeordneter aus Solidarität mit den Gefangenen des Militärgefängnisses Diyarbakir erregten Unmut beim Vorsitzenden Inönü. Mit solchen Aktionen sah er die Staatsräson gefährdet. Lokale Parteigliederungen wurden daraufhin vom Vorstand amtsenthoben, die Entscheidungen später aber vom Parteirat rückgängig gemacht. Zunehmend verlor der Parteivorstand im innerparteilichen Richtungsstreit jedwede Kompetenz. Inönü war die große „Vaterfigur“, eine Autorität, die vom Namen herrührte. Realer politischer Einfluß auf die Partei blieb ihm versagt. Daraus hat er schließlich die Konsequenzen gezogen.
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