: P O R T R A I T Der Herausforderer: ein charismatischer Anti–Intellektueller
■ Labourführer Neil Kinnock reißt das Parteivolk mit, aber er repräsentiert auch die geistig verengte Welt der britischen Gewerkschaftsbewegung
Als Neil Kinnock nach der katastrophalen Wahlniederlage von 1983 die Führung der völlig demoralisierten und in sich zerstrittenen britischen Labour Party übernahm, beneideten ihn wenige um seine Aufgabe, die Arbeiterpartei wieder in einen ernsthaften Mitbewerber um die politische Macht in Großbritannien zu verwandeln. Vier Jahre später hat der Mann mit den ganz gewöhnlichen Eigenschaften Anhänger wie Kritiker überrascht: Die Partei steht hinter Kinnock, er ist der einzige ernsthafte Herausforderer Frau Thatchers. Und wenn Labour auch kaum auf eine absolute Mehrheit hoffen kann, ein Rückfall in die alten Flügelkämpfe scheint unter seiner Führung auch nach einer erneuten Wahlniederlage unwahrscheinlich. Neil Kinnock wurde vor 45 Jahren als Sohn eines Bergarbeiters und einer Krankenschwester in die sozialistische Kultur einer walisischen Bergarbeitergemeinde hinein geboren. Der Labourism in den Tälern von Südwales war damals wie heute eine stark emotionale, anti–intellektuelle Macho–Kultur, geprägt von den „working mens clubs“ der Gewerkschaften. Dieser Tradition hat der Politiker Kinnock all seine Stärken und Schwächen zu verdanken. Von hier stammt sein Unverständnis gegenüber anderen Strömungen und Lebensstilen innerhalb seiner Partei, das seine oft rücksichtslosen Säuberungsaktionen erst möglich machte. So zwang ihn allein sein Anti–Intellektualismus, die trotzkistische Militant– Gruppierung in der Labour Party bis aufs Messer zu bekämpfen, so fanden in seinem gewerkschaftlichen Denken weder schwarze noch homosexuelle Minderheiten einen Platz. Seine gelegentlichen Schwulenwitze waren dabei so peinlich wie populär. Neil Kinnock hat diese geistig verengte Welt der Gewerkschaftsbewegung nie verlassen. Zwar ge hörte er der ersten Generation der Arbeiterklasse an, die von ihren Eltern - mit viel Glück - auf die höhere Schule und später auf die Universität geschickt werden konnte; wohlgefühlt hat sich Kinnock in dieser akademischen Umgebung dagegen nie. Nach seinem mittelmäßigen Examen fiel der gute Neil wieder in den Schoß Labours zurück, trat einen Job in der Arbeiterbildung an, ehe er dann als Abgeordneter für seine Geburtsregion ins Unterhaus zog. Ehrgeizig und mit dem Geschick eines Mannes, dem seine Umgebung vertraut ist, nahm seine Karriere in der Labour Party einen steten Fortgang. Nach der Auseinandersetzung zwischen dem hilflosen Parteiführer Michael Foot - den Kinnock unterstützte - und der sogenannten „harten Linken“ unter Tony Benn, blieb Kinnock am Ende plötzlich als einziger Kandidat übrig, der für das gesamte Spektrum der zerstrittenen Partei noch akzeptabel war. Um wie viele seiner Vorgänger als Rechter abqualiziert zu werden, ist er zu sehr Demokrat, paßt seine Unterstützung der einseitigen nuklearen Abrüstung von Großbritanniens Atomstreitmacht nicht ins Bild. Kinnock ist der bisher einzige Oppositionsführer einer westlichen Industrienation, der es gewagt hat, die Mär von der aggressiven Sowjetunion in aller Öffentlichkeit als unsinnig abzutun und die rüstungspolitischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Um als Linker zu gelten, verfällt er allzu leicht einem unkritischen Pragmatismus und Patriotismus. Der burschikose Herausforderer Margaret Thatchers sieht sich selbst als ein Art Marktsozialist, der den Kapitalismus irgendwie sozial vermitteln will. Die theoretische Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kapital kümmert ihn dabei weniger. In seinem Element ist der Labour–Führer, wenn es gilt, sein Parteivolk mit sich zu reißen. Eine Kinnock–Rede in der Turnhalle des örtlichen Gymnasiums, und alle Zweifel der Zuhörer an einer kommenden Labour–Regierung sind beseitigt. Beeindruckend seine rhetorisch–emotionale Verurteilung der Thatcher–Politik. Wer Kinnock in solchen Situationen zuhört, der bekommt wieder ein Gefühl für den solidarischen Zusammenhalt der Arbeiterbewegung, der sonst bereits zur Geschichte gezählt wird. Bewegt sich Kinnock dagegen in einer ihm feindlich gesinnten Umgebung, so beginnt er allzu leicht zu schwafeln. Das allwöchentliche Duell mit der Eisernen Lady in der Fragestunde des Parlaments hat er häufig verloren, weil ihm die hierzu nötige analytische Schärfe und die Fähigkeit zu einem brillanten Kreuzverhör abgehen. Auch einen Kinnock als weltmännischen Staatsmann, der über den Tellerrand der britischen Inseln hinauszuschauen vermag, können sich nur die wenigsten vorstellen. Neil Kinnock war genau der Richtige, um Labour nach der letzten Wahlschlappe vor dem Auseinanderfallen zu bewahren. Als Produkt des Sozialstaates, dem er nach eigenen Bekunden alles verdankt, wäre er dessen überzeugendster Garant, allein deswegen ist er im Moment der geeignete Gegenkandidat Frau Thatchers. Sein beeindruckender Wahlkampfstil hat in den letzten Wochen die letzten Zweifler an seiner Person verstummen lassen. Hier an der Schwelle zur Macht machen sich seine Skrupellosigkeit und sein Realismus ebenso gut wie sein unbestreitbarer Charme im Umgang mit den Bürgern draußen in den Wahlkreisen. Als Wahlkämpfer war er die richtige Wahl. Um aber über die jetzt anstehenden Wahlen hinaus das theoretische Defizit im Selbstverständnis der Labour Party auszufüllen, ist er mit Sicherheit der Falsche.
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