: Ostjustiz: In drei Jahren selbständig
■ „Wenn nicht bald was passiert, kommt es zum Stillstand“/ Situation prekär/ Wann wird die Justiz im Osten kollabieren?/ In Sachsen fehlen 800 bis 1.000 Richter
Bonn. Die Justiz in Ostdeutschland wird nach Einschätzung von Bundesjustizminister Klaus Kinkel (FDP) erst in drei Jahren selbständig funktionieren können.
In einem Interview des Kölner 'Express‘ sagte er: „Auf die Dauer ist es unabdingbar, daß die Justizminister in den Neuländern eigene Richter und Staatsanwälte selbst einstellen, wie es ihre Kollegen in den alten Bundesländern tun.“ Solange dies nicht gelinge, sei in den ostdeutschen Ländern noch „keine optimale Rechtsprechung“ garantiert.
Der Staatssekretär im sächsischen Justizministerium, Eberhard Stilz, warnte unterdessen vor einem Kollaps der Justiz in Ostdeutschland. Im halleschen 'Neue Presse-Express‘ bezeichnete er die Situation als „prekär“. „Wenn nicht bald etwas passiert, kommt es zum Stillstand der Rechtspflege.“ Stilz forderte von der Bundesregierung und den alten Bundesländern, den aus dem Westen kommenden Juristen ein volles Westgehalt sowie Aufwands- und Trennungszulagen zu zahlen.
Auch nach Kinkels Ansicht sind dringend „Soforthilfemaßnahmen“ erforderlich, um einem Zusammenbruch des Rechtswesens in den neuen Bundesländern entgegenzuwirken. Er schlug ein „Seniorenmodell“ vor, bei dem Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger aus den alten Ländern in die neuen entsandt werden sollten. Die Altersbegrenzung sollte bei 68 Jahren liegen.
Die Besoldung müßte sich zusammensetzen aus der Pension — 75 Prozent des letzten Endgehaltes, das ohnehin vom alten Arbeitgeber bezahlt werde — sowie 35 Prozent Gehalt vom neuen Bundesland plus einer Aufwandsentschädigung für Reise- und Trennungskosten vom Bund. Darüber hinaus müßten mehr aktive Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger aus dem Westen entsandt werden.
Den 130 bisher nach Ostdeutschland geschickten Juristen habe der Bund 50 Prozent der Westbezüge gezahlt. Er strebe an, dieses Modell zu erweitern, sagte Kinkel. Allein in Sachsen fehlen nach Angaben von Staatssekretär Stilz 800 bis 1.000 Richter, dazu ganze Berufsgruppen wie Rechtspfleger, Bewährungshelfer oder Gerichtsvollzieher. Einer Studie des Bundesjustizministeriums zufolge werden in der ehemaligen DDR rund 4.500 Richter benötigt. Die Studie orientiere sich dabei an den Verhältnissen in Nordrhein- Westfalen, teilte ein Sprecher des Ministeriums mit. In NRW gibt es 4.225 Richter — ohne Arbeitsrichter — und etwa 35.000 Bedienstete im Justizwesen. In den neuen Ländern dagegen gebe es lediglich 1.450 Richter, davon 130 aus dem Westen. taz/afp
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