: Ostberliner Einzelhandel in westdeutscher Hand
■ Wirtschaftsstadtrat Pieroth (CDU) will verhindern, daß sich jetzt noch mehr Verbrauchermärkte den Einzelhandel sichern / Bundesdeutscher Unternehmer bot Spende in Höhe von einer Million bei Vermittlung von Gewerbeflächen / Bis jetzt 400 Investitionsofferten eingegangen
Ost-Berlin. Fast der gesamte Einzelhandel in Ost-Berlin ist nach Angaben von Wirtschaftsstadtrat Elmar Pieroth (CDU) an westdeutsche Konzerne abgegeben worden. Der Magistrat werde versuchen, nachträglich noch einiges in Ordung zu bringen, sagte der ehemalige Westberliner Wirtschaftssenator gestern im Ostberliner Roten Rathaus.
Der Magistrat werde entschieden gegen alle vorgehen, die sich mit viel Druck noch schnell die Verbrauchermärkte für die nächsten 30 Jahre sichern wollten. Als Beispiel führte Pieroth einen Brief an ihn an, in dem ein Interessenvertreter von Firmen in der Bundesrepublik eine 200.000 Quadratmeter große Gewerbefläche für die Ansiedlung eines Möbel-, Heimtextilien- und SB-Marktes sucht. Als Gegenleistung versprach er eine Spende in Höhe von einer Million D-Mark.
Pieroth vertrat in der ersten Pressekonferenz nach seinem Amtsantritt vor drei Wochen die Ansicht, daß Ost-Berlin sich als Magnet für westdeutsche und europäische Investitionen erweisen werde. Bereits jetzt seien 400 Investitionsofferten überwiegend aus Westdeutschland eingegangen, von denen etwa 100 die Friedrichstraße im Zentrum der Stadt beträfen. Es handele sich hauptsächlich um die Ansiedlung von Dienstleistungsbetrieben wie Hotels, Gaststätten, Büros, Banken und Versicherungen.
Noch mehr als auf Investoren von außen komme es aber auf Berliner Unternehmer und die vielen kleinen Selbständigen an. Oberste wirtschaftspolitische Aufgabe sei deshalb die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmer in der Strukturanpassung und deren Schritt in die Selbständigkeit.
Beim Gewerbeamt des Magistrats lägen bereits 2.000 Anträge auf die Bereitstellung von Räumen vor. Um den Engpaß an Gewerberaum zu beseitigen, seien 60 Mitarbeiter seiner Verwaltung unterwegs, um Räume und Hallen Volkseigener Betriebe ausfindig zu machen. Allein im Stadtteil Friedrichshain seien von 460 kontrollierten Objekten 139 frei gewesen. Außerdem sei eine Arbeitsgruppe „Flächennutzung für Gewerbeansiedlung“ eingesetzt worden, die ermitteln solle, wo zusätzliche Gewerberäume gebaut werden könnten. Diese sollten vorrangig an DDR-Bürger vergeben werden. Durch die Bindung der Vergabe an eine Person und an den Verwendungszweck solle die Einschaltung eines „Strohmanns“ verhindert werden.
Zu Versorgungsproblemen durch Engpässe im Einzelhandel sagte Pieroth, es würden in Fällen, wo dies nötig sei, Disziplinarmaßnahmen angeordnet. Der Magistrat wolle verhindern, daß vor dem 1.Juli die Geschäfte zumachten, um erst nach dem 1. Juli mit den neuen D-Mark-Preisen wieder zu öffnen. Alle Geschäfte seien angewiesen, bis Freitag abend offenzuhalten, die Lebensmittelgeschäfte bis Sonnabend mittag.
Im Mai '90 war der Einzelhandelsumsatz nach Angaben des Ostberliner Statistischen Amtes um 9,7 Prozent geringer als im gleichen Vorjahresmonat. Besonders bei Industriewaren verringerte sich der Umsatz um 15,1 Prozent. Hauptursachen sind erhebliche Preisreduzierungen, ungenügende Belieferung durch den Großhandel und das geringe Produktionsaufkommen der Betriebe. Drastische Umsatzeinbußen gab es im „Exquisit“ -Sortiment mit 91 Prozent, beim IFA-Sortiment mit 30 und im Möbelsortiment mit 26 Prozent.
dpa/taz
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