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Archiv-Artikel

Ortstermin Herr Negt erklärt die Finanzkrise

Irgendwie müssen Investmentbanker für ganz schön viele Probleme herhalten. Sie sind schuld an den Absatzeinbrüchen in der Autobranche (obwohl die auch vorher schwächelte), sie tragen die Verantwortung dafür, dass Manhattan zum Eldorado für Psychologen und Krisenbewältiger geworden ist. Und die Mentalität der Investmentbanker ist schuld, dass die Gesellschaften in den westlichen Industrieländern so verrohen.

Vor allem um Letzteres ging es am Mittwochabend im Charlottenburger Gottfried-Keller-Gymnasium auch beim Vortrag von Oskar Negt, seines Zeichens Soziologe und Philosoph, bekennender Alt-68er, Mitbegründer der berühmten Glocksee-Schule in Hannover, der einzig staatlich voll finanzierten Alternativschule in Deutschland, und: ehemaliger Absolvent eben dieses Gottfried-Keller-Gymnasiums in Charlottenburg. Titel der Veranstaltung: „Gespräche über die gefährdete Zukunft“. Die Leitfrage: Was hat die jüngste Finanzkrise mit Bildung zu tun? Konkreter könnte man auch sagen: In welchem Ausmaß kann Schule einen Beitrag zur Verhinderung einer solchen Krise leisten?

Um es gleich vorwegzunehmen: Eine glasklare Antwort lieferte der Grandseigneur der bundesrepublikanischen Sozialphilosophie nicht. Dafür sei die aktuelle Krise auch für ihn momentan nicht zu fassen, die tatsächlichen Auswirkungen nicht abzusehen. Immerhin gelang es ihm, die anwesenden Oberstufenschüler und -lehrer über die Ursachen des globalen Supercrashs aufzuklären. Die „völlige Entkoppelung der Finanz- von der Realwirtschaft“ sei der wesentliche Grund für den Zusammenbruch. Dass auf jeden real erwirtschafteten Dollar an der Wall Street 300 Dollar verzockt wurden. Und er schilderte die unstillbare Gier dieser Finanzkapitalisten, die jegliche menschliche Bindung der Arbeiter zu ihrer Firmenspitze gekappt haben. Negt widerlegte Helmut Schmidt (SPD), der in seiner Amtszeit als Kanzler einst die Formel aufstellte, die Gewinne von heute seien die Investitionen und Arbeitsplätze von morgen und übermorgen. „Nein“, sagt Negt: „Die Gewinne von heute sind die Arbeitslosen von morgen.“

Und dann stellt er den Bezug der Finanz- zur Bildungskrise her. Bildung im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung würde sich aus drei Bereichen zusammensetzen: der kognitiven-, der emotionalen- und der sozialen Leistung. Die emotionale und soziale Leistungen würden aber in den USA und auch in Deutschland sukzessiv verkümmern. „Und wo das passiert, bricht der Unterbau weg“, so der Soziologe. Soziale Kompetenzen, politische Urteilsfähigkeit, vor allem aber ein gesamtgesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein würde den Eliten heute völlig fehlen. Stattdessen bedienten sie nur noch ihre eigene Klientel.

Wie Jugendliche heute am besten auf so schwierige Zeiten vorbereitet werden, die nun unmittelbar bevorstehen, fragt ein Schüler. „Indem Schüler lernen, diese existenziellen Probleme und ihre Ursachen zu verstehen“, antwortet Negt. FELIX LEE