piwik no script img

Operation gelungen – Patient zahlt

■ Regierungsparteien und SPD einigten sich gestern auf die Streichung eines Feiertages / In den Bundesländern, die dies nicht wollen, zahlen die Arbeitnehmer den gesamten Versicherungsbetrag

Bonn (taz) – Der Streit um die Pflegeversicherung ist beendet. Koalition und SPD haben sich gestern darauf geeinigt, daß die häusliche Pflege am 1.4.1995, die stationäre am 1.7.1996 eingeführt werden soll. Nach dem Vermittlungsausschuß und den Fraktionen, die gestern abend tagten, soll der Bundestag noch heute dem Verhandlungsergebnis zustimmen.

Nach stundenlangen Sitzungen stand gestern mittag fest, daß der festgefahrene Konflikt um den Ausgleich des Arbeitgeberanteils an den Versicherungsbeiträgen sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte, obwohl keine neue Idee auf den Tisch gekommen war. Die Kompensation für die erste Stufe soll nun, wie von der SPD vorgeschlagen, im Regelfall durch die Streichung eines Feiertags erreicht werden, darüber haben die einzelnen Landtage zu entscheiden. Die SPD stimmte schließlich auch der in ihren Reihen umstrittenen Regelung zu, daß die Arbeitnehmer „zunächst den gesamten Beitragsanteil zur Pflegeversicherung übernehmen“, wenn ein Land keinen Feiertag abschafft. Die CSU hat bis zuletzt hartnäckig daran festgehalten, daß keiner der kirchlichen Feiertage in Bayern gestrichen werden soll, und das auch gestern wieder angekündigt. Hier müßten also die Arbeitnehmer den Versicherungsbeitrag zu 100 Prozent selbst bezahlen. Für die Kompensation bei der zweiten Stufe ab 1996, also die mögliche Streichung eines weiteren Feiertags, hatte sich schon letzte Woche der Kompromiß abgezeichnet, daß darüber später, nach einem Gutachten des Sachverständigenrats, zu entscheiden sei. Das letzte Wort müssen auch dann wieder Bundestag und Bundesrat sprechen. Hier hat sich die SPD durchgesetzt, die Koalition wollte dem Sachverständigenrat ursprünglich die Entscheidung verbindlich übertragen.

Selbstverständlich kannte der gestrige Tag nur Gewinner. Arbeitsminister Norbert Blüm bemerkte mit dem ihm eigenen Pathos: „Lassen wir die Details beiseite. Die Pflegeversicherung kommt. Heute ist ein guter Tag für den Sozialstaat Deutschland.“ Zwei Grenzen habe sich die SPD gesetzt, so Parteichef Rudolf Scharping, und sich damit durchgesetzt. Es gebe weder Eingriffe in die Tarifautonomie und keine Überkompensation. SPD-Verhandlungsführer und Sozialexperte Rudolf Dreßler, der die hundertprozentige Beitragsübernahme durch die Arbeitnehmer bis vorgestern abgelehnt hatte, meinte, „daß die Hartnäckigkeit sich gelohnt hat, und zwar für die Pflegebedürftigen“. Für den Fall, daß es andere Kompensationen als die Feiertagsregelung geben sollte, kündigte er für die Zeit nach der Bundestagswahl an, „daß die SPD die 100-Prozent-Regelung wieder abschaffen wird“.

Diese Regelung war auch bei den Gewerkschaften auf massive Kritik gestoßen. Zurückgenommen hat die Koalition ihren zweiten Ersatzvorschlag, die Kompensation über die Streichung eines Urlaubstags zu sichern. Das wäre ein Eingriff in die Tarifautonomie gewesen. Scharping betonte das Einvernehmen mit seinem Verhandlungsführer, der in der letzten Woche mit dem Rückzug vom Verhandlungsmandat gedroht hatte. Es sei der hartnäckigen Sachkunde von Dreßler zu verdanken, daß der Kompromiß so aussehe. Die SPD hofft, die CSU in Bayern noch unter Druck setzen und auch hier die Feiertagsstreichung durchsetzen zu können.

Gewerkschaften und Arbeitgeber lehnen den Kompromiß ab. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen- Kefer kritisierte die Kompensationsregelung als „völlig untragbar“. Als „schwerwiegendste Fehlentscheidung seit Jahrzehnten“ bezeichnete die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände den Beschluß. tib

Seiten 4 und 10

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen