: Ohnmacht der Avantgarde
Meinhard Zanger ist Leiter des diesjährigen Off Theater Festival Theaterzwang. Er schreibt über die Szene, ihre Sorgen, aber auch über die Fehlentwicklungen bei den freien Bühnen in NRW
von MEINHARD ZANGER
„Der Zuschauer hat keine Lust, am Abend in eine Krise zu gehen“, hat einmal ein gestandener Theatermann gesagt. Wie recht er hat. Denn das Gejammer der Theatermacher allerorten ist groß. Egal, ob sie der Stadt- oder der Freien Theaterszene angehören. Zuerst wird immer über (nicht vorhandenes oder besser: nicht zugestandenes) Geld geredet und erst dann über das Programm. Inhalte und Ästhetik sind zweitrangig geworden.
Den Theatermachern drückt der Schuh. Vor allem den Freien. Sie sind nicht nur Künstler, also Schauspieler, Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner, Tänzer oder Musiker, sondern zum größten Teil vor allem Unternehmer. Und sie sind ihre eigenen Buchhalter und Ticketverkäufer, Telefonisten und Agenten, Dramaturgen und Pressereferenten, zum Teil auch ihre eigenen Bühnentechniker und Requisiteure, Schneider, Schreiner und Schlosser, Kascheure und Maler, Tontechniker und Beleuchter. All diese Gewerke sind notwendig, um eine Theaterproduktion auf die Beine stellen zu können. Dies wird oft vergessen. Ebenso dass eine professionelle Qualifikation für diese Arbeiten wichtig ist. An Stadt-, Staats- und Landesbühnen sind diese Abteilungen selbstverständlich vertreten. Die Freie Theaterszene kann sich heute auf Grund ihrer knappen Budgets nicht einmal einen Bruchteil davon leisten. So ist der Grad der oft zitierten Selbstausbeutung immens hoch. Dass zum einen gerade der Abschied von diesen Strukturen zur Gründung vieler Avantgarde-Theater führte, sei es in den 20er Jahren oder als Renaissance in den 50ern, ist ebenfalls in Vergessenheit geraten. Die Avantgardisten sahen ihre Aufgabe nicht darin, in einem „Beamtenbetrieb“ die „kulturelle Grundversorgung“ der Bevölkerung zu gewährleisten. Sie wollten inhaltlich und strukturell, politisch und ästhetisch eingetretene Pfade verlassen und andere Akzente setzen.
Zum anderen gründeten sich in den 1970er und 80er Jahren viele sogenannte Freie Theater als Protest auf die verkrustete bürgerliche Gesellschaft. Viele Künstler in spe verließen ihren Brotberuf oder brachen ihr Studium ab und widmeten sich der Theaterarbeit, teils unter soziokulturellen Aspekten, teils spezifisch für Kinder und Jugendliche, teils mit ästhetischen Experimenten oder genreübergreifenden Konzepten. So entstand nach dem Beuys- Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ aus der Zusammenführung dieser beiden Strömungen die bis heute real existierende Freie Theaterszene getreu dem Motto „Theater als Lebensform“. Nun hat sich im Laufe der letzten 20 Jahre das kulturelle Leben grundlegend gewandelt. Die Entstehung einer expandierenden Kultur-Industrie, einhergehend mit der Entwicklung neuer Medien und ihrer gewaltigen Bilderflut, hat die Kunst im allgemeinen und die Freie Theaterszene im besonderen vor neue Aufgaben gestellt. Stadttheater stehen nicht mehr im Zentrum des kulturellen Lebens und sind gezwungen, mehr und mehr ästhetische Experimente zu wagen, Freie Gruppen hingegen verwässern ihre Konzepte und setzen auch „Stadttheater“-Stücke auf ihre Spielpläne, Theatermacher peppeln auf Grund radikal veränderter Sehgewohnheiten ihres Publikums die Bühnenästhetik mit Anleihen aus den neuen Medien auf, das Fernsehen öffnet seine Pforten immer ungebremster einem Live-Publikum und nimmt dem Theater das Besondere und Einzigartige. So fischt jeder im Teich des anderen, die Grenzen verschwimmen, das geschärfte künstlerische Profil bleibt auf der Strecke: jeder macht alles, jeder kann alles, jeder glaubt, alles (machen) zu können. Parallel zu dieser Entwicklung nimmt in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten die Lobby für Kunst und Kultur ab, die Effizienz-Apostel treten auf den Plan. Während man über Sinn und Unsinn dieser Debatte in Bezug auf städtische und staatliche Institutionen noch streiten mag, arbeitet seit fast 30 Jahren kein Theater bereits so „effizient“ wie die Freien. Es gibt keine verkrusteten Strukturen, der Eigeneinnahme-Anteil am Gesamtetat liegt weit über dem Durchschnitt der Theater in öffentlicher Trägerschaft, die aus ideologischen Gründen nicht gewollte Arbeitsteilung kann es schon aus Finanznot nicht geben: Der Regisseur reißt die Karten ab, der Schauspieler wechselt die Toilettenpapierrollen aus, der Musiker entwirft an seinem Computer das Programmheft. Aber eines gilt für alle: Theater ist und bleibt grundsätzlich eine personalintensive Kunst – und die kostet Geld. Wenn die Freien mehr und mehr gezwungen werden, „auf Kasse“ zu spielen, müssen sie produzieren was gefällt und ihre Kunst über Bord werfen. Ihre Daseinsberechtigung wäre obsolet. Einzige Alternative: Ensembles schrumpfen bis zur Unkenntlichkeit auf einen Schauspieler zusammen. So spiegeln sich in Zeiten der (Um-) Verteilungskämpfe gesellschaftliche Vereinsamung und Entsolidarisierung in der Ensemblestärke der (Freien) Theater wider: Solisten-Abende als Synonym für Einzelkämpfertum. Und den Letzten beißen bekanntlich die Hunde. Das Wort von der „Effizienz-Falle“ macht die Runde. Die multifunktionale Arbeitsweise der Freien Theatermacher war frei gewählt und gewollt. Sie hätte Freude an der Arbeit bedeuten können, würde nicht jede Haushaltsdebatte – egal ob in Stadt oder Land – die Sorge um die weitere Existenz implizieren, da auch in wirtschaftlich fetten Jahren immer an der finanziellen Schmerzgrenze produziert wurde. Ein Missverständnis zu glauben, Freies Theater bedeute kostenfreies Theater.
Aber ist diese Arbeitsweise überhaupt noch zeitgemäß und zukunftsträchtig? Ist diese Lebensform weiterhin gewollt und praktikabel? Im Zeitalter der industriellen Kulturrevolution ist vom Markt die Rede, von Segmenten, es gilt „seine“ Nische zu finden, das eigene Profil zu schärfen oder gar neu zu definieren. Technisierung und Digitalisierung haben in vielen Arbeitsbereichen (Verwaltung, Werbung, Technik, Licht, Ton) zur Spezialisierung geführt. Die angestrebte Simplifizierung in der Technik führte zur Komplizierung derselben. Rasante Atomisierung und Professionalisierung waren die Folge. Diesen Herausforderungen kann sich niemand verschließen. Es ist schier unmöglich geworden, dass wenige weiterhin alles leisten können. Überforderung bleibt nicht aus. Arbeit wäre also genug da. Personal ist aber nicht bezahlbar. Wer nicht mithalten kann, bleibt auf der Strecke. Für Programmauswahl und ästhetische Fragen bleibt keine Zeit mehr. Für den öffentlichen Streit darüber sowieso nicht.
Kunst aber braucht Zeit. Erfordert Liebe zum Detail. Den Weg von der Oberfläche zur Tiefe. Braucht einen fruchtbaren Boden, auf dem der Samen wachsen kann. Dieser wiederum bedarf eines Schutzraumes: Förderung und Unterstützung, die Kunst aus sich selbst heraus niemals leisten kann, da sie ökonomisch unrentabel ist und unter diesem Aspekt nie Rentabilität erreichen kann. Subvention ist da der falsche Begriff. Von Kunstfinanzierung muß gesprochen werden. Kunstförderung ist eine Pflichtaufgabe der öffentlichen Hand und darf keine freiwillige Leistung bleiben, wollen wir zukünftig nicht in unwirtlichen Städten ohne Theater und Konzertsäle, ohne Kinos und Museen, ohne Bürger- und Jugendzentren ein armseliges Dasein fristen. „Denn wofür lebt der Mensch?“ fragte einst Bertolt Brecht. „Für das Extra.“
Dieses Extra beträgt derzeit 0,8 Prozent im Land der Dichter und Denker. 0,8 Prozent ist exakt der Anteil der Kulturausgaben an allen Haushalten der Bundesrepublik, nur 0,27 Prozent am Landeshaushalt NRW 2004. Davon wiederum fließt ein Minimalst-Bruchteil in die Freie Theaterszene Nordrhein-Westfalens, die jetzt auf 20 % verzichten soll. So muss jede Kürzung, sei sie noch so gering in der konkreten Höhe und noch so groß im prozentualen Verhältnis, die Freien Theatermacher ins Mark treffen.
Es ist gut, daß es den Theaterzwang–seit 19 Jahren! – gibt. Das Festival kann aber nur der berühmte Tropfen auf den ebenso berühmten heißen Stein sein. Denn die Freien Theater im Land, aus deren Breite eine Reihe von Spitzen-Ensembles herausragt, verdienen größere Beachtung und Anerkennung, als ihr heute entgegen gebracht werden. Die Krise des Theaters ist keine Theater-Krise, sondern eine Krise der Politik, die es versäumt hat, was sie warum, wie lange und in welcher Höhe fördern will. Gefragt sind politischer Wille und Mut. Ein Theaterförderkonzept auf Landesebene tut dringend Not, ein Konzept, das nachhaltig die Breite entfalten, die Spitze entwickeln hilft und endlich Planungssicherheit gewährleistet. Dass die Freien Theater zu gewaltigen künstlerischen Leistungen in der Lage sind haben sie seit Jahren eindrucksvoll bewiesen. Der Theaterzwang 2004 wird dies ebenso eindrucksvoll bestätigen.