: Ohne Worte
■ Das Pantomimen-Ensemble »Mime Crime« im Freien Schauspiel
Eine Lehrerin (Désirée Angersbach) malträtiert ihre Schüler und verwandelt sich plötzlich in ein Huhn. Peinlich berührt verläßt sie das Klassenzimmer. Ein Mann (Joseph Sternweiler) gerät in einen Strom physischer Störungen beim Studium der Tageszeitung. Keine emotionale Entladung ist ihm zu schade, keine Verrenkung des Körpers zu groß, um die alltäglichen Nachrichten zu kommentieren. Zum Schluß verspeist er ein einziges Wort mit stiller Genugtuung. Intensität und eine Liebe zum Detail zeichnen dieses Solo aus. Angler müssen zuweilen ihre Rute dem Meer opfern, das hat man schon oft gehört. Daß sie anschließend fast von einem Öltanker gerammt werden, ist jedoch seltener. Uli Gleichmann passiert dieses Mißgeschick, und er antwortet souverän auf den Affront, indem er den Tanker mit ein paar Handgranaten versenkt. Probleme ganz anderer Art hat Ron Agenant, der als trotteliger, aber sensibler Samurai einen verzweifelten Kampf gegen einen Wurm führt und bei dieser ungleichen Auseinandersetzung den kürzeren zieht. Selbst das klassische Harakiri-Ritual wird zur Farce. Wundervoll einfallsreich zeigt dieser Mime dabei eine fast unerschöpfliche Palette von Geräuschen und Verzerrungen der Gesichts. Und auch das Schachspiel zwischen Alexander Simon (der durch Konzentration und körperliche Präsenz überzeugt) und Werner Kemmer nimmt eine ungeahnte Wende: nachdem man längst die traditionellen Regeln weit hinter sich gelassen hat, mutieren die wettstreitenden Männer zu primitiven Primaten. Der Geistesmensch als Affe. Im »etwas anderen Restaurant« kann man dann erleben, was das Verspeisen von Fast Food aus Menschen machen kann: erst Roboter, dann Kannibalen.
Was hier — vom Themenkreis her— wie eine Studie von Oliver Sacks über die kleinen Ticks unserer Mitmenschen anmutet, ist die erste Produktion von »Mime Crime«, einem neuen Berliner Off-Pantomimen-Ensemble. Sie zeigen auf der Basis einer klassischen Pantomimen- Ausbildung eine lobenswert schrille Materialsammlung mit ungeahnten Pointen. Ausdrucksstark in der Körperbeherrschung, phantasievoll in der Umsetzung und voller Merkwürdigkeiten bietet diese Produktion eine unterhaltsame Abwechslung zur üblichen Theaterkost. Bedenkt man zudem, daß die meisten Darsteller sich noch kurz vor der Abschlußprüfung befinden, so besticht das hier Dargebotene durch bemerkenswerte Professionalität. Demzufolge honorierten die Zuschauer diese Präsentation in dem kleinen Raum des Freien Schauspiels in Neukölln auch zu Recht mit der Forderung nach einer Zugabe, die freigebig und prompt geliefert wurde — und sich überdies als eine der gelungensten Szenen erwies: auch hier werden gesellschaftliche Konventionen auf spielerisch- amüsante Art korrumpiert. Täter werden zu Opfern — auch den Gewinner bezwingt das Gelächter.
Diesem kurzweiligen Abend kann man nur eine Fortsetzung wünschen. York Reich
Weitere Aufführungen: 26., 27., 28. 3. jeweils um 20 Uhr im Freien Schauspiel, Pflügerstraße 3 in Neukölln.
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