ESSAY: Ohne Selbstbewußtsein
■ Die Abdankung der politischen Klasse in der Hauptstadt Berlin
Es ist, als ob Berlin auf nichts stünde; nur wäre das Nichts eben das Nichts — ein zum Wesen erhobenes Nichtsseiendes. Man fühlt keinen Boden — und eben dies wäre also die Position der Stadt.“ An dieser Standortbestimmung, von Wilhelm Hausenstein vor sechs Jahrzehnten getroffen, hat sich bis heute wenig verändert. Berlin, so diagnostizierte der Kulturkritiker 1929, existiert in keiner Geschichte, und, so möchte man zeitversetzt hinzufügen, in keiner Zukunft, in keiner Vorstellung seiner selbst. Berlin, das ist in diesen Tagen die leere Rede von der Metropole, vom Tor zum Osten, von der Schnittstelle auf der Ost- Westachse Europas, von der neuen Hauptstadt Deutschlands. Das ist die Definition einer neuen Identität der Stadt, geschöpft aus der Funktion, die Berlin bleibend geprägt hat: preußische Residenz — und deutsche Hauptstadt gewesen zu sein. Es war und ist eine entlehnte Identität. Die Hauptstadtrolle ist in beiden, ehedem getrennten Hälften Berlins Orientierung der zukünftig gemeinsamen Entwicklung. Der Aufbau der Regierungsgebäude wird zur Metapher des Zusammenwachsens dessen, was vermeintlich immer schon zusammen gehörte.
Dieser Prozeß ist so symbolbeladen, daß er an der Realität zuschanden wird. Die Bevölkerung steht ihm reserviert gegenüber. Sie hat als Stadtbevölkerung traditionell ein distanziertes Verhältnis zu den in ihrer Mitte residierenden Regierungen, und sie ist biographisch nach wie vor mit den Teilhälften verbunden, begreift sich als West- oder Ost-Berliner. Der jahrzehntelangen getrennten Entwicklung zum Trotz haben die Berliner in beiden Teilen der Stadt dennoch eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie artikulieren sich vornehmlich politisch.
Stadt ohne Gesellschaft
Berlin ist eine Stadt ohne Gesellschaft. Nie gab es in Berlin wie in Rom, Paris oder London das „geschlossene Ganze, das eine Gesellschaft ausmacht“. Diese Diagnose, die der Journalist Walter Kiaulehn dem Berlin der Kaiserzeit stellte, hat auch heute noch ihre Gültigkeit. Die Kirchen spielen eine traditionell geringe gesellschaftliche Rolle, der Wirtschaft ist es nicht gelungen, sich zu einer business comunity, die der Hamburger oder Frankfurter vergleichbar wäre, zusammenzuschließen. Die Universitäten, obgleich zahlreicher und größer als in jeder anderen Stadt, konnten letztlich nur in einer spezifischen politischen Ausformung das Leben in der Stadt prägen. Seit der Studentenrevolte gilt Berlin als Hort all derer, die aufmüpfig, autonom und alternativ sind. Die „Anti-Berliner“, die der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen in ihnen ausmacht, sind das ideologische Pendant eines sich politisch definierenden Gemeinwesens, das die „lieben Berlinerinnen und Berliner“ seit der Luftbrücke im Westteil bilden. Im Ostteil entwickelte sich die spezifische Dualität einer privaten Nischengesellschaft und eines allmächtigen und allgegenwärtigen Staatsapparates. Zwischen beiden besaß allenfalls die Kirche eine begrenzte gesellschaftliche Funktion.
Dominierend in Ost wie in West war und ist die aufgeblähte öffentliche Verwaltung. Sie ist Resultat der politischen Rollen, die den beiden Stadthälften im Koordinatensystem des Ost-Westkonfliktes zugedacht waren. Wegen dieser Rollen flossen hüben wie drüben üppige Subventionen. Ohne die will die Stadt nun nicht mehr leben. Deshalb legt die politische Klasse der Stadt Eile an den Tag, drängelt in Bonn auf zügige Entscheidungen über den Umzug der Regierung. Die Hauptstadtfunktion ist eine Überlebensfrage für die Stadt geworden. Sie bietet den Begründungszusammenhang, der die immer spärlicher fließenden Zuwendungen des Bundes neu erschließen soll. Berlin, das sich über vierzig Jahre lang als Tor der freien Welt verteidigen, feiern und subventionieren ließ, kann auf eigenen Füßen in dieser freien Welt nicht überleben. Es ist auf staatliche Hilfe angewiesen. Am Tropfe hängt, zum Tropfe drängt in dieser Stadt die öffentliche Hand, wie auch der Restbestand einer einstmals mächtigen Industrie. Die Wirtschaft der Stadt erhofft sich von dem Einzug der Regierung entscheidende Impulse, und die aufgeblähte Zahl der öffentlich Bediensteten ist guter Hoffnung, in Anbetracht der drohenden Schrumpfung der Landesverwaltung Unterschlupf in einer der sich etablierenden Bundesbehörden zu finden.
Zugreifen statt planen
Unter diesen Koordinaten gestaltet sich zur Zeit die Politik der großen Koalition, die seit einem Jahr die Berliner Landesregierung stellt. Angetreten ist sie mit dem erklärten Ziel, die Hauptstadtfunktionen und die Olympiade im Jahr 2000 in die Stadt zu holen. Auch dieses Projekt soll gleichermaßen Identität stiften und materielle Ressourcen erschließen. Der Senat hat sich mit dieser Zielbestimmung unter einen erheblichen Handlungs- und Zeitdruck gesetzt. Zugleich wächst damit die Distanz zwischen der Bevölkerung und der Politik. Denn die herrschende Berliner Politik verwaltet und exekutiert. Sie hat das Ziel „Hauptstadt“, doch keine Idee von der zukünftigen Gestalt der Stadt, hat keinen Begriff von deren Identitätsbildung noch von den historisch gewachsenen Linien, aus denen sich diese herleiten könnte. Der Diskurs über die Zukunft wird, wenn überhaupt, nicht übergreifend gesellschaftlich, sondern in Fachzirkeln geführt. Seinen Zeitrhythmus bestimmen die Entscheidungsträger in Bonn und die horrende anwachsende Bodenspekulation in der Stadt. Die Investoren gestalten ihre Areale und erwarten von der Politk entsprechende Rahmenbedingungen. Spätestens seit der Entscheidung über den Stadtplanungsentwurf für den Potsdamer Platz kann bei dem zukünftigen Ausbau Berlins von solchen politischen Rahmenbedingungen nicht mehr die Rede sein. Und spätestens seit Bundesregierung und Bundestag ihre Ansprüche auf die eigene Gestaltung eines Regierungsviertels angemeldet haben, ist die Rolle der Berliner politischen Klasse bei der zukünftigen Gestaltung der Stadt drastisch zusammengeschrumpft. Die regierende Senatskoalition paßt sich den Wünschen der Bundesbehörden möglichst nahtlos an, um eine Verzögerung des Regierungsumzugs zu vermeiden.
Das politische Management der Stadt liegt in wenigen Händen. Sie greifen zu, aber gestalten nicht. Belebendes Moment der Stadtpolitik ist nicht der Entwurf, die Generalplanung, sondern der Kompromiß. In ihm tarieren die Spitzen der regierenden Christ- und Sozialdemokraten ihre beiderseitigen Interessen aus. Den beiden Fraktionen und Parteien der großen Koalition bleibt die Profilierung an- und gegeneinander auf Politikfeldern, die zwar symbolträchtig, für die weitere Entwicklung der Stadt jedoch völlig unbedeutend sind. Als Beispiel seien hier nur die monatelangen Auseinandersetzungen um den Abriß des Lenindenkmals genannt. Mit dieser Lärmproduktion auf Nebenkriegsschauplätzen übertönen die Regierungsparteien ihre Unfähigkeit, auf die veränderte Situation in der Stadt programmatisch zu reagieren. Sie orientieren sich, wie auch FDP und Grüne, im wesentlichen an dem in vierzig Jahren Inseldasein gewachsenen Politik„verständnis“, dessen Antrieb die Interessenbefriedung der jeweiligen Klientel war und deren Grundlage die konstant fließenden öffentlichen Gelder bildeten. Verfangen in dieser Tradition, sehen sich die Parteien einer Integrationsaufgabe gegenüber, die sie überfordert. Als Organisatoren oder wenigstens, mit Lenin zu sprechen, als Transmissionsriemen für eine gesellschaftliche Debatte um die Zukunft der Stadt sind sie nicht zu gebrauchen. Die politische Klasse meistert nicht die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens, sondern sie erleidet sie — auch in ihrer eigenen Zusammensetzung. Das hindert sie nicht daran, sich starr auf das Ziel „Hauptstadt Berlin“ zu fixieren und damit den Zwängen zu verfallen, die aus dieser Fixierung folgen. Bereits Felix Mendelssohn Bartholdy mußte angesichts der Stadt „an einen Frosch denken, der sich aufblasen will, nur, daß er hier nicht zerspringt, sondern am Ende wirklich ein Ochse werden wird.“ Dieter Rulff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen