Offener Brief zur Fluchtpolitik der EU: Politisch instrumentalisiert

Die Lage der Geflüchteten an der polnisch-belarusischen Grenze ist inhuman. Dieser Brief ist ein Appell an Europa, sich nicht zu einem rechtsfreien Raum zu entwickeln.

Belarusische Sicherheitsleute überwache die Ausgabe humanitärer HIlfsgüter an Flüchtlinge. Eine Frau blickt teilnahmslos direkt in die Kamera

Sicherheitsleute in Belarus bewachen die Ausgabe humanitärer Hilfsgüter an Geflüchtete Foto: Viktor Tolochko/imago

Dies ist ein offener Brief der Autorin Dorota Dakowska. Sie ist Politologin an der Sciences Po Aix en Provence und hat den Offenen Brief initiiert, den mitterweile mehr als 200 Wis­sen­schaft­le­r*in­nen aus 20 Ländern unterzeichnet haben, darunter Naika Foroutan, Steffen Mau, Gesine Schwan, Laurence Burgorgue-Larsen, Jean-Yves Carlier, Emilio De Capitani, François Héran, Elspeth Guild, Steffen Mau, Guillaume Sacriste, Wojciech Sadurski u.a..

Hier lesen Sie die französische Originalversion und die Liste der Un­ter­zeich­ne­r:in­nen.

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Für einen kurzen Moment erregte die Situation an der polnisch-weißrussischen Grenze die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Die Bilder von Tausenden von Flüchtlingen aus dem Irak, Syrien, Jemen und anderen Ländern, die von Präsident Lukaschenko angelockt und unter unmenschlichen Bedingungen an der Grenze auf weißrussischer Seite zusammengepfercht wurden, lösten europaweit Empörung aus.

Es wurden entsprechende geopolitische Analysen vorgelegt, auch wurden einige politische, zum Teil auch repressive Antworten formuliert (Sanktionen, Militarisierung der Grenzen). Doch bis heute geht das humanitäre Drama auf beiden Seiten der Grenze unaufhörlich weiter, und es wurde bislang keine angemessene Antwort darauf gefunden.

Seit September 2021 befinden sich die Flüchtlinge, denen es gelungen ist, über die polnisch-weißrussische Grenze in die EU zu gelangen, in einem gefährlichen, militarisierten Gebiet, zu dem weder Ärzte noch Journalisten oder NGOs Zugang haben. Im Białowieża-Wald, einem der letzten verbliebenen Urwälder Europas, sterben Männer, Frauen und Kinder an Unterkühlung, Durst und fehlender medizinischer Versorgung.

Die polnischen Grenzschutzbeamten ignorieren ihre Asylanträge und weisen sie systematisch an der belarussischen Grenze zurück. Diese Praxis der Zurückweisung ist selbst in Krisenzeiten verboten. Sie verstoßen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (Artikel 33), die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 3) und ihr Protokoll Nr. 4 (Artikel 4), die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Artikel 18 und 19) – allesamt verbindliche rechtliche Instrumente, die die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten eigentlich einhalten müssen.

Zehnmal wieder zurückgeschickt

Einige Familien, die von belarussischen Soldaten gezwungen wurden, die Grenze zu überqueren, wurden mehr als zehn Mal zurückgeschickt oder voneinander getrennt, was ein unerträgliches menschliches Leid erzeugt. Am 19. November forderte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, Zugang für humanitäre Hilfe und internationale Unterstützung ein, und sie bekräftigte die Dringlichkeit, diesen systematischen Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen.

Nichtregierungsorganisationen wie die Grupa Granica oder Human Rights Watch haben ausführliche Berichte über diese Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Der Europaabgeordnete Pietro Bartolo, auch bekannt als der „Arzt der Migrant:innen“ von Lampedusa, berichtete von „massiven Verletzungen der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der internationalen Abkommen“, „einer Atmosphäre des Terrors“ und „einer humanitären Katastrophe“.

Die Europäische Kommission reagierte am 1. Dezember 2021, indem sie (auf der Grundlage von Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) vorschlug, dass der Rat Dringlichkeitsmaßnahmen beschließt, um die betroffenen EU-Staaten in die Lage zu versetzen, die aktuelle „Krise“ an der polnisch-weißrussischen Grenze zu bewältigen.

Anstatt jedoch den grundlegenden Charakter des Asylrechts zu bekräftigen, zielt dieser Vorschlag darauf ab, die polnischen, litauischen und lettischen Behörden zu ermächtigen, das beschleunigte Grenzverfahren auf alle Asylanträge anzuwenden. Auf diese Weise wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Asylanträge der Schutzbedürftigen geprüft werden, noch weiter gesenkt und die Legalisierung von Massenabschiebungen unterstützt.

Nur Demokratie kann uns schützen

Es muss jedoch klar betont werden, dass es sich bei den Ereignissen, die wir derzeit an der polnisch-weißrussischen Grenzen erleben müssen, nicht um eine „Migrationskrise“ handelt. Die wenigen tausend Menschen an der Grenze sind eine kleine Gruppe, deren Anwesenheit politisch instrumentalisiert und dramatisiert wird. Obwohl diese Situation keinen erwiesenen „Notfall“ darstellt, bedroht die Einrichtung der No-Go-Zone das tägliche Leben und die wirtschaftliche Existenz von Zehntausenden von Bewohnern des Grenzgebiets.

Dieser Vorschlag der EU-Kommission ist eine Bedrohung für alle EU-Bürger. Die Unterstützung der illegalen Maßnahmen autoritärer Regierungen gibt ihnen freie Hand, gesetzlose Zonen auf dem Kontinent zu errichten. Die Europäische Union, die auf Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der Grundrechte gegründet wurde, kann diese Grundsätze nicht einfach aufgeben.

Nichts Geringeres als die Zukunft der EU steht demnach im Białowieża-Wald derzeit auf dem Spiel. Wir fordern den Rat der Europäischen Union auf, auf die Legalisierung dieser Ausnahmen von der Einhaltung der Verträge zum Schutz der Menschenrechte zu verzichten. Wir fordern angemessene und vor allem humane europäische Antworten auf die humanitäre Krise und die sofortige Aktivierung von Mechanismen zum Schutz gefährdeter Personen und zur Achtung des Asylrechts.

Hier geht es nicht darum, einem bestimmten Land Moralunterricht zu erteilen. Natürlich kann eine ganze Reihe von EU-Ländern für ihre Versäumnisse auf dem Gebiet der Grundrechte kritisiert werden. Jedes Land hat das Recht, seine Grenzen zu kontrollieren. Doch angesichts illegaler und unmenschlicher Praktiken, die immer weiter fortbestehen und zunehmend auch institutionalisiert werden, ist es dringend notwendig, die universellen und grundlegenden Regeln der Rechtsstaatlichkeit zu bekräftigen.

Wir, die Bürger der Europäischen Union, müssen diese Regeln bekräftigen und verteidigen, denn in einer Demokratie kann uns nur das Recht vor willkürlichen Entscheidungen schützen.

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Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.

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