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Offener Brief an Senator Haase

■ betr.: „Avus wird immer voller, Wald immer lichter“, „Mitleid mit dem Wald“, taz vom 15.10.93

Nicht einmal zwei Wochen sind vergangen, da erschien in der Tagespresse der sogenannte Waldzustandsbericht: Höchste Alarmstufe für den Berliner Wald – nur noch weniger als ein Drittel der Bäume zeigen keine Schädigungen! [...] Nun erfahren wir, daß Sie die Schönwalder Allee, die durch den Spandauer Forst führt, für den motorisierten Individualverkehr öffnen wollen und damit den Weg freimachen für Zehntausende Kraftfahrzeuge. Diese Autoflut wird dem Wald dann endgültig den Rest geben und damit ein lebenswichtiges Naherholungsgebiet für die Berliner Bevölkerung zerstören! Die Öffnung dieser Straße hätte nicht nur direkte negative Folgen für Mensch, Tier und Pflanze, sondern würde auch für die nächsten Generationen eine Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität bedeuten, weil bis dahin sicher nichts mehr vom Wald übrigbliebe.

[...] Sie negieren mit Ihrer Verkehrspolitik all die erkannten Warnzeichen und schaffen statt dessen die Voraussetzungen dafür, daß ein Teil der „grünen Lunge“ Berlins durch den Autoverkehr ruiniert wird. Die von Ihnen geplante Öffnung der Waldstraße wäre dann ein weiterer Höhepunkt in der Skandalchronik Ihrer Verkehrspolitik in dieser Stadt. Sie haben nichts ausgelassen, angefangen bei der Wiedereröffnung der Havelchaussee für den motorisierten Individualverkehr (auch durch ein Waldgebiet), die zeitliche Einschränkung der Busspur auf dem Kurfürstendamm, die Öffnung des Gleimtunnels trotz massiver Proteste der Anwohner. Es fehlt immer noch die vollständige Umsetzung des 280 Kilometer langen Busspurnetzes, obwohl dies in den Koalitionsvereinbarungen mit der SPD beschlossen worden war, es fehlt auch immer noch die Parkraumbewirtschaftung.

Sehr schnell, und man könnte auch sagen: verbissen, ließen Sie Tempo-30-Straßen wieder in Raserpisten umwandeln, wohl wissend um die Gefahr bei Unfällen mit Tempo 50. Auch die baldige Einführung des Grünen Pfeils lag Ihnen sehr am Herzen. Die Gefahr, die dabei für Fußgänger entsteht durch rücksichtslose Autofahrer (und von denen gibt es immer mehr), scheint Sie nicht zu kümmern. Der Verkehr muß fließen, notfalls auch über Leichen.

Der innerstädtische Flughafen Tempelhof, der eigentlich nur für den Regionalflugverkehr konzipiert war, wird von Jahr zu Jahr immer häufiger angeflogen, nun schön wöchentlich mit 530 Flügen. Die in der Einflugschneise lebenden Menschen werden durch den Fluglärm terrorisiert und durch die Abgase in ihrer Gesundheit beeinträchtigt, ohne daß aus Ihrer Behörde ein Zeichen kommt, wann dieser Wahnsinn denn mal ein Ende hat.

Furchtbar aber ist der Tod von 20 Kindern, allein in diesem Jahr. Sie wurden Opfer eines ungebremsten Autoverkehrs, dessen Regelung in menschenerträgliche Bahnen unter anderem auch Ihre Aufgabe ist! [...] Sie sind Mitglied einer Partei, die sich christlich nennt, sich für den Schutz des ungeborenen Lebens einsetzt, aber Sie sind nicht in der Lage oder willens, sich für das schon geborene Leben einzusetzen. Wie anders ist denn zu verstehen, daß an den meisten Hauptstraßen die zulässigen Grenzwerte bei Luftschadstoffen überschritten werden und Säuglinge und Kleinkinder ständig diesem Giftcocktail aus Autoabgasen ausgesetzt sind, ohne daß dirigistische Maßnahmen von Ihnen angeordnet werden. Das gravierendste Beispiel für die Unfähigkeit, Menschen in unerträglichen Zuständen zu helfen, ist die Brückenstraße in Berlin-Mitte.

[...] Diese bornierte, menschenverachtende und meiner Ansicht nach bisweilen auch kriminelle Verkehrspolitik wird keine Zukunft haben! Besinnen Sie sich endlich auf eine umweltfreundliche Verkehrspolitik, die wieder mehr Ruhe und Lebensqualität in diese Stadt bringt. [...] Dietmar Pitz

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