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Ödipus in der weiten Wüste

■ John Sayles macht sich in Lone Star mit erzählerischer Dichte und Melancholie auf die Suche nach familiären Dunkelzonen

John Sayles jüngste Arbeit ist literarisch bewandert. Stellt man sich ein Drehbuch vor, in dem ein paar Spannungsbögen aus Shakespeare-Dramen die familiären Dunkelzonen eines Tschechow-Stücks unter Druck setzen, kommt man seinem zehnten Film, Lone Star, auf die Spur.

Nachdem in der Wüste nahe dem texanischen Städtchen Frontera ein Skelett entdeckt wurde, übernimmt Sheriff Sam Deeds (Chris Cooper) die Ermittlungen. Die Gebeine gehören zu dem seit 1957 verschollenen Sheriff Charly Wade (Kris Kristofferson). Der Legende nach wurde dieser von Deeds Vater Buddy vertrieben, der seit dieser vermeintlichen Großtat bis zu seinem Tod eine glänzende Reputation im Ort genießt.

Der Sohn hingegen hat als Gefängniswärter in einer anderen Stadt gearbeitet und begegnet nun während der Untersuchung in Frontera seiner inzwischen verwitweten Jugendliebe Pilar (Elizabeth Pena), mit der ihn nicht nur gemischte Gefühle verbinden. Bei den Fragen, die er unter anderem dem mit dem Vater verkumpelten Bürgermeister oder dem Kneipier stellt, bekommt er nicht nur mit der Zunge in der Backe gemachten Äußerungen über die Ereignisse vor 40 Jahren zu hören, immer schwebt auch der Geist seines Vaters durch die Unterhaltungen.

Aber John Sayles Film hält sich nicht bei einer Art Ödipus in Frontera/Texas auf, sondern belegt, wie man durch ein paar übereinandergelegte Erzählstränge mehr als eine Ahnung davon vermittelt, wie sich das Leben tragische Streiche ausdenkt und Wolkenkuckucksheime baut. In Lone Star verbindet sich auf der Seite der Protagonisten eine private Melancholie mit dem Blick auf die Welt durch immer stärker werdende Gefühle – ohne Pathos, ohne Sentimentalität und mit einer besonderen Art behutsamen Respekts für Leute, Menschen und ihre Standpunkte.

Die Stränge der Geschichten laufen bei Sayles aber nicht ineinander oder auseinander – wie es mancher Cineast bereitwillig als Qualität zugesteht. Lone Star erreicht vielmehr eine erzählerische Dichte, wie sie der Romanschriftsteller John Irving anstrebt. So rückt der Film sogar der Wahrheit auf die Pelle.

Kristof Schreuf Neues Broadway, Studio

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