: Obis Opfer
AUS BERLIN FRIEDERIKE GRÄFF
Berlin-Neukölln, 26. Januar 2004. Wenn jemand nach drei Generationen das Familiengeschäft schließen muss, ist es vielleicht besser, einen kleinen Umweg zu nehmen. Zuerst den Vater zu fragen und nicht den Sohn. „Mein Sohn ist kein Duckmäuser, er bricht nicht in Tränen aus“, sagt Friedrich Quapp am Telefon.
Jetzt beim Ausverkauf kommen die Stammkunden, aber es hilft nicht mehr, und eigentlich gibt es auch nicht mehr viele Stammkunden. Die neuen Kunden kaufen ihr Bügeleisen bei Obi, und wenn es kaputt ist, kommen sie, weil Obi keine Ersatzschrauben verkauft. „Sie kaufen die Schraube für 30 Cent und ziehen die Augenbrauen hoch“, sagt Friedrich Quapp. „Es ist nicht mehr die fröhliche Lebensaufgabe, die es einmal war.“
Er sagt das sehr sachlich und in Worten, die so selten geworden sind wie die Eisenwarenläden. Früher gab es sieben Eisenwaren- und Haushaltsläden in der Neuköllner Hermannstraße, heute ist es nur noch einer, mit einem 70-Jährigen, der nicht aufhören will. Ganz am Schluss erzählt Friedrich Quapp noch, dass sein Sohn erkrankt ist. „Er wird von sich aus wohl nicht die Sprache darauf bringen.“
Thomas Quapp sagt in der Tat nichts dazu. „Eigentlich ist der Ausverkauf Leichenfledderei“, sagt er stattdessen. „Man braucht schon Abgebrühtheit, um das zu überstehen.“ Die Leichenfledderei ist jetzt immer samstags zwischen 10 und 14 Uhr, und man darf gerne kommen, um sie sich anzusehen.
28. Januar. Im Fenster von Quapps Eisenwarenladen hängt ein Schild. „Nach 97 Jahren schließen wir endgültig zum 31. 1. 2004. Wir danken allen Kunden, die uns so lange die Treue gehalten haben. Vier Generationen Quapp.“
Thomas Quapp trägt Bart und einen Troyer, das gibt ihm ein bisschen etwas von einem Kapitän, und wäre ihm Pathos nicht so fremd, könnte man jetzt etwas über sinkende Schiffe schreiben. Sein Vater räumt beim Sanitärzubehör herum, eigentlich wandert er vor allem durch den Laden, ein alter Herr im karierten Jackett und mit Baskenmütze. „Als ich angefangen habe, hatten wir noch sechs Angestellte“, sagt Thomas Quapp, dazu seine Eltern, die Großmutter, der Großvater, der noch mit 90 die Buchhaltung gemacht hat.
An der Tür zum Büro hängt ein Foto von den drei Quapp-Generationen vor dem Kleineisenwarenschrank mit den 1.200 Fächern, nur Thomas Quapp lächelt darauf. Das Foto stammt aus besseren Zeiten. In den Siebzigerjahren kauften die Leute ihre Töpfe, Blumenkästen und Gartenmöbel noch im Eisenwarenladen, und die Quapps lieferten einmal pro Jahr Bänke auf die Friedhöfe, mindestens 50 Stück, damit sich die Hinterbliebenen in Ruhe zu ihren Verstorbenen setzen konnten. Aber irgendwann hat die Friedhofsverwaltung die Privatbänke verboten, weil sie verrotten, sobald auch die Hinterbliebenen tot sind.
Heute kaufen die Leute ihre Blumenkästen bei Plus und Lidl. „Zu Preisen, bei denen wir nicht mithalten können“, sagt Thomas Quapp. „So sind wir demontiert worden“, sagt Friedrich Quapp.
31. Januar. Neukölln war nie bürgerliche Gegend, und wer Geld hat, wohnt nicht in der Hermannstraße. Aldi, Lidl und Rudis Resterampe teilen die Straße und die Kunden unter sich auf, und weil es so viele Kunden sind, gilt die Nachbarschaft als gute Lage. Manchmal kommen die Leute zu Quapps, um sich einen Kaffeeautomaten zeigen zu lassen, danach gehen sie zu Rudis Resterampe, weil es dort keinen Vorführtisch gibt und die Kaffeemaschinen deshalb ein bisschen billiger sind.
An schlechten Tagen kommen zwischen neun und zwölf Uhr fünf Kunden, heute drängen sich mindestens dreißig im Laden. „Was kostet der Zwerg“, fragt ein Mann mit Brille. „Zwei Euro“, sagt Monika Quapp. Der Mann geht wortlos. „Kinder, wenn ihr nicht wollt, dann lasst es doch“, ruft sie. Dann will er doch und klemmt den Zwerg freudlos unter den Arm.
Monika Quapp hat das Energische, das man als Physiklehrerin vermutlich zum Überleben braucht. Thomas Quapp sagt: „Wenn nicht das Gehalt meiner Frau und etwas Privatvermögen da gewesen wäre, hätten wir die Gehälter der Angestellten nicht zahlen können.“ So schlecht lief der Laden inzwischen. Weil die Handwerksbetriebe, die früher bei ihm kauften, viele Aufträge an den Osten verloren haben. Weil die offizielle Arbeitslosenquote in Neukölln bei 28 Prozent liegt und die versteckte bei 35. Weil die Prüfungsgebühren für einen Lehrling auf 600 Euro gestiegen sind. Weil Thomas Quapp fast nichts mehr sehen kann.
Im Oktober 2000 ist er gestürzt, die Wunde am Bein hat sich entzündet. Nach 16 Operationen kann das Bein gerettet werden, aber seine Sehkraft hat sich stark verringert. Wie soll ein Eisenwarenhändler arbeiten, der keine Packungsaufschrift lesen kann? „Ich habe das Licht gesehen“, sagt er. „Danach lebt man anders, man wird kompromissloser, gelassener.“
„Tag, Chefin“, sagt ein Mann mit Sporttasche unterm Arm. Sein Freund in Lederjacke hat einen Saftbrater gekauft, es fällt schwer, ihn sich als Koch vorzustellen. „Es ist ein schönes Andenken an euch“, sagt der Mann mit Lederjacke. „Kommen Sie zum Essen“, sagt der Mann mit der Sporttasche. Und Thomas Quapp sagt, der Kontakt zu den Kunden sei das Schönste an seiner Arbeit gewesen. Was ein bisschen unbestimmt klingt, aber man versteht, was er meint, sogar beim Ausverkauf.
„Heute berät er nicht“, murmelt eine alte Dame, aber dann fragt sie ihn doch, wo sie einen Strahler bekommen soll, jetzt, wo er keine mehr verkauft. „Im Lampenladen“, sagt sie zu sich selbst. „Es gibt ja keinen mehr“, antwortet er.
Früher, sagt Thomas Quapp, hätten sich die Nachbarn in Neukölln noch gekannt. Früher, das sind die Siebzigerjahre, als der Laden lief und um die Ecke fünf Motorradmänner in die alte Fleischerei einzogen. „Sie waren von oben bis unten tätowiert“, sagt Thomas Quapp, aber das hat sie nicht daran gehindert, die alte Dame aus dem Hinterhaus zu pflegen. Manchmal schauen sie heute noch bei den Quapps vorbei.
Einer ihrer Freunde ist Bommel, Harley-Fahrer und Sprengmeister. Bommel trägt schwarzes Leder und Cowboystiefel, er hat einen dünnen Pferdeschwanz und in der Hand ein Päckchen. „Von einem treuen Kunden“, sagt er. Im Päckchen ist ein gerahmtes Foto von ihm als Münchhausen auf einer Bombe in einem Erdloch. Auf der Rückseite steht ein Gedicht für die Quapps in krakeliger Jungenschrift. „Super, Bommel“, sagt Thomas Quapp, während sich die Kunden um ihn drängeln. „Mensch, was ist hier los“, ruft eine sehr blonde Dame. „Jetzt jault ihr, früher seid ihr nicht gekommen“, murrt der Chef.
14. Februar. Weil so viel Ware übrig geblieben ist, geht der Ausverkauf weiter. Quapps verkaufen Ofenrohre, Nägel, Werkzeug, Gießkannen, Töpfe, auch einen Butterkühler – ein Glasbehälter, der mit Frottee bezogen ist, den man zur Kühlung anfeuchtet. Sie verkaufen 16 Sorten Klebehaken, aber die Kunden fragen trotzdem: „Mehr haben Sie nicht?“
„Mit meiner Generation der Eisenwarenhändler geht all das Wissen verloren“, meint Thomas Quapp und holt einen Eisenwarenkatalog von 1929 aus dem Büro. Der Katalog ist eigentlich ein Buch, es gibt seitenweise Öfen darin, Viehketten, Kartoffelkörbe, Turngeräte, Leiterwagen und auch eine Jauchepumpe Neptun Spezial fürs Feld. Außerdem gibt es einen warenkundlichen Fragebogen mit 267 Seiten für Eisenwarenlehrlinge. Frage 41 heißt: „Welche andere Benennung hat man für Schraubenkastenschlösser?“ Antwort: „Bundschrankschlösser.“
Natürlich weiß Quapp das, auch er war Eisenwarenlehrling. Da lernt man auch beim Ausliefern. Man erfährt etwas darüber, wie die Leute mit der Armut leben und wie mit der Einsamkeit. Thomas Quapp hat die aufgeräumten Hinterhauswohnungen gesehen, die Damen, die sich ihr Zimmer mit 150 Teddybären teilen und die vollständig schwarze Wohnung eines Boy-George-Fans, der kein Wort über die Finsternis um ihn herum verliert. „Die Kunden sind zu Hause viel zugänglicher und sicherer“, hat er da erfahren.
Beim Ausverkauf sind sie vor allem sparsam. „Ich will alles kaufen, Kollega“, sagt ein Mann mit Baseballkappe, „aber ein bisschen billiger.“ – „Acht Euro“, sagt Monika Quapp, aber die Kunden legen nur fünf auf die Theke. Beharrlich, immer wieder.
21. Februar. Die Quapps haben gekündigt: das Gas, das Telefon, die Mitgliedschaft in der IHK. Das Ende ist nah. „Selbst den Mittelgroßen geht es doch schlecht“, sagt Monika Quapp. Den Verbänden fällt wenig ein, was sie für ihre Mitglieder tun könnten. Die Aktionsgemeinschaft Hermannstraße hat einen Blumenkorso veranstaltet.
Und die Zeitungen interessieren sich nur, wenn große Firmen schließen, findet Thomas Quapp. Wenn 200 Arbeitsplätze in Gefahr sind, rührt sich sogar der Senat. Bei zweien nicht. Aber man kann auch anders rechnen: Wenn in Berlin wie im letzten Jahr etwa 6.900 Einzelhändler schließen, sind mindestens ebenso viele Arbeitsplätze gefährdet. Der letzte Lehrling der Quapps sitzt jetzt bei Plus an der Kasse. Und die Verkäuferin? Sie ist 57 Jahre alt. „Ein blödes Alter“, sagt Thomas Quapp, zumindest wenn man Arbeit suchen muss. Ihm wird die Bundesversicherungsanstalt eine Berufsunfähigkeitsrente zahlen.
1. März. Der Nachmieter, ein Lederwarenhändler, will plötzlich doch nicht die Regale übernehmen. Sie müssen noch raus, dann ist Schluss. „Was ich am meisten bedaure, ist, dass ich niemanden gefunden habe, der das Geschäft in meinem Sinn weiterführt“, sagt Thomas Quapp sehr förmlich, aber schließlich ist es auch die Bilanz von 97 Jahren Eisenwarenhandel, wenn man so will. „Man kann die Zeit nicht zurückdrehen“, sagt seine Frau.