piwik no script img

■ Ob Bosnien als multiethnischer Staat überlebt, ist ungewiß. Trotzdem: Dayton ist eine Chance. Die einzigeGegen den Balkanpessimismus

Wer sich mit dem Balkan beschäftigt, lernt als erstes, schwarzzusehen. Von den Rumänen heißt es, daß, wenn immer sie zwischen zwei Möglichkeiten hätten entscheiden können, sie die schlechtere gewählt hätten. Die Albaner, erzählt man sich, hätten überhaupt nie eine Wahl gehabt. Bosnien schließlich, sagt sein trauriger Liebhaber Ljubomir Berberović, sei im Laufe seiner tausendjährigen Geschichte nie mehr als eine Chance gewesen, bisher leider eine stets vertane. Bei allem historischem Pessimismus besteht die Kunst darin, Chancen zu erkennen. Dayton ist eine, noch immer.

Diese Chance bestand nicht in den Wahlen. Wer erwartete, die Bosnier würden die nationalen Parteien abwählen, war naiv. Das konnten sie gar nicht: In erster Linie war die Wahl eine Volkszählung, die Auswahl des Wahlorts eine Option, wo man künftig leben will. Ganz unabhängig von politischen Vorlieben waren Flüchtlinge, 59 Prozent der Wahlberechtigten, gezwungen, zugleich mit ihrem künftigen Wohnort ihre nationale Partei zu wählen. Die Zukunft ihrer Volksgruppe, als Minderheit und in manchen Orten auch als Mehrheit, hing von diesem Votum ab. Ein Kroate etwa im muslimischen Bugojno wäre dumm gewesen, wenn er sich für die nicht-nationalistische „Vereinigte Liste“ entschieden hätte, ebenso wie zum Beispiel ein nach Deutschland geflohener Muslim, der ins serbische gehaltene Doboj zurück will. Ob es in Bugojno überhaupt eine Zukunft für Kroaten gibt, hängt vor allem davon ab, wie viele „kroatische“ Stimmen dort abgegeben wurden. Stimmen für nationale indifferente Parteien sind verloren.

Diese Wahl war somit eine Art Volkszählung – so wie die früheren jugoslawischen Volksabstimmungen alle zehn Jahre so etwas wie Wahlen waren. Ihr Ergebnis entschied damals über den Proporz für Mehrheit und Minderheiten, in der Partei, der Verwaltung, der Polizei, sogar der Wirtschaft. Wer sich als „national unentschieden“ deklarierte, wurde im Proporz halt nicht berücksichtigt. So ist es nach wie vor. Die Bürgergesellschaft, in der Ethnizität eine Kategorie zweiter Ordnung ist, läßt sich in Bosnien weder durch Deklarationen noch mit dem Stimmzettel herbeiführen, sondern – wenn überhaupt – nur durch gegenseitige, kontrollierte nationale Abrüstung.

Die Chance für Bosnien liegt vielmehr darin, daß die feindlichen Landesteile zur Kooperation verdammt sind. Die serbische Republik Srpska kann trotz aller separatistischer und allserbischer Rhetorik ihren Traum nicht wahrmachen, sich an Jugoslawien anzuschließen. Der Weg ist ihr unter Sanktionsdrohung gegen Belgrad versperrt. Wirtschaftlich ist sie mausetot. Sie hat zwar 49 Prozent des Territoriums von Vorkriegsbosnien, aber nur eines von zehn Industriezentren, ist in weiten Landstrichen, besonders in Ostbosnien, zerstört und entvölkert. Wer jung ist und einen brauchbaren Beruf gelernt hat, ist längst weg. Gleichzeitig winkt die Weltbank mit mehr als fünf Milliarden Dollar Krediten und Zuwendungen, zugänglich um den geringen Preis politischen Wohlverhaltens. Bleiben die Wahlsieger um Biljana Plavšić und Momcilo Krajisnik auf ihrem Isolationskurs, riskieren sie auch noch den Zerfall ihrer armseligen Republik.

Die Chance muß freilich genutzt werden. Und das geschieht nur, wenn die internationale Gemeinschaft auf den uneingelösten Versprechen von Dayton besteht: völlige Bewegungsfreiheit, gemeinsame staatliche Strukturen und Rückkehrrecht für Flüchtlinge. Nur so kann die Reintegration Bosniens aus der luftigen Sphäre der Diplomatie auf den Boden der Realität kommen. Gemeinsame Strukturen haben auf Dauer aber nur Zukunft, wenn es etwas Gemeinsames zu verwalten gibt. Mißlingt das, sieht es finster aus. Denn auch für die Alternative, eine friedliche Trennung des „ohnehin zerfallenen“ Bosnien, die manche fordern, fehlen die Voraussetzungen. Die Abspaltung von Srpska hätte auch den Zerfall der muslimisch-kroatischen Föderation zur Folge. Das ginge nicht friedlich ab. Denn zum einen sind die Siedlungsgebiete beider Völker durch den Krieg zwar entmischt, aber nicht arrondiert, zum anderen käme der muslimische Reststaat, zwischen Feinden eingezwängt, in eine unerträgliche Situation. Nur wenn die Serben zum Bleiben gezwungen werden, kann die Föderation überleben. Das Verhältnis aller drei Völker zueinander bildet nach wie vor den beweglichen Rahmen, in dem sich die Beziehungen zwischen je zwei Völkern entwickeln.

Die Wahlen haben die bisher hohlen Staatsstrukturen mit Gesichtern gefüllt. Besonders bedeutsam ist das für die Föderation. Dort hätte schon im September 1994 gewählt werden sollen. Weil der Termin blockiert wurde, existierten die „Republik Bosnien- Herzegowina“ und die „Kroatische Republik Herceg Bosna“ weiter und blockierten einander ihrerseits, zum Nachteil des neuen Staates. Nun, nach der Wahl, entfällt der Vorwand für ihr Fortbestehen.

Die Kommunalwahlen, wichtigste Etappe des Daytonschen Wahlmarathons, wurden zum Glück verschoben. Man kann nur hoffen, daß der neue Termin möglichst spät im nächsten Jahr liegt. Wo einer seine Stimme abgibt, muß eine verbindliche Absichtserklärung sein, dort künftig auch leben zu wollen. Propagandistische Umdirigierungen von angeblich ansiedlungswilligen Wählergruppen zum Zwecke der politischen Eroberung einer Ortschaft, wie sie sich die Serben in Brcko und die Kroaten in Gornji Vakuf geleistet haben, müssen ausgeschlossen werden. Es gibt bisher kein wirksames Mittel dagegen. Am 14. September konnte jeder Wähler auf einem Formular einen beliebigen künftigen Wohnort nennen, ohne nachweisen zu müssen, sich dort tatsächlich niederzulassen.

Damit aber jeder eine verantwortliche Entscheidung treffen kann, müssen Mindestvoraussetzungen erfüllt sein: freie Fahrt zum alten Haus (oder zur künftigen neuen Wohnsiedlung), Sicherheit für Leib und Leben. Im serbischen Landesteil wurden Flüchtlinge erpreßt, damit sie an ihrem Zufluchts- und nicht an ihrem Heimatort wählten – was bekannt wurde, ist wohl nur die Spitze eines Eisbergs aus Desinformation, Einschüchterung und Zwang. Das darf sich bei den Gemeindewahlen nicht wiederholen. Denn Flüchtlingsrückkehr funktioniert nur, wenn alle gleichzeitig das Bäumchen wechseln. Dahin ist noch ein langer Weg. Mit jedem Tag, den die Kommunalwahlen zu früh stattfinden, stirbt ein Stück der Chance für Bosnien. Norbert Mappes-Niedick

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen