OFF-KINO : Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
Mitte der 1920er Jahre schrieb der für seinen scharfzüngigen Witz bekannte britische Autor, Schauspieler und Entertainer Noel Coward das melodramatische Theaterstück „Easy Virtue“ als Abrechnung mit der Heuchelei einer reaktionären britischen Oberschicht: Im feudalen Herrenhaus sitzend, haben die Herrschaften zwar wenig mehr im Kopf als die nächste Fuchsjagd, maßen sich jedoch an, über den Rest der Welt abfällige Moralurteile zu sprechen. Das Drama beginnt, als der Sohn des Hauses die Großstadtpflanze Larita ehelicht, eine geschiedene Frau mit Skandalvergangenheit, was die Familie allerdings zunächst nicht weiß. 1928 verfilmte Alfred Hitchcock das Konversationsstück noch als Stummfilm: Er betonte die melodramatischen Elemente der Geschichte, führte erstmals in seinem Werk eine seiner furchterregenden fiesen Filmmütter ein (schmaler Mund, straffe Frisur, schwarz umrandete Augen und ein stechender Blick – der pure Terror) und inszenierte Szenen mit emotionalem Suspense, wenn Larita bei jedem Ausflug und jedem Besuch dem Moment entgegenzittert, da sie jemand erkennen könnte. In der bislang jüngsten Verfilmung des Stoffes (2008) orientiert sich Regisseur Stephan Elliott nun deutlicher als Hitchcock am originalen Theaterstück, treibt die behutsam modernisierte Geschichte jedoch gleichzeitig stärker in Richtung Komödie: So entspinnt sich alsbald ein vergnügliches, mit eloquentem Wortwitz vorgetragenes boshaftes Duell zwischen Larita (Jessica Biel) – hier eine emanzipierte amerikanische Autorennfahrerin – und der Mutter (Kristin Scott-Thomas) ihres schwächlichen Gatten, bei dem sich beide Seiten nichts schenken. Und auch, wenn es Larita im Mief des Landhauses am Ende zu eng werden wird – die Moderne, die man dort so gern verdrängen möchte, lässt sich nicht verhindern. (19.–25.8. Blauer Stern Pankow, Bundesplatz-Studio; 19.–20./22.–25.8. Union)
Jean-Luc Godards vierter langer Spielfilm „Vivre sa vie“ (1962) ist von seinen frühen Werken vielleicht das typischste im Hinblick auf das Gesamtwerk: Ausgehend von dem zeitgenössischen Buch „Où en est la prostitution“ des Richters Marcel Sacotte, erscheint „Vivre sa vie“ sowohl als eine in zwölf Kapitel gegliederte, genaue Fallstudie vom kontinuierlichem Abstieg einer jungen Frau in die Prostitution als auch wie eine Hommage an den Stummfilm (vor allem an „La passion de Jeanne d’Arc“ von Dreyer), ein philosophisches Traktat über die Ideen von Brice Parrain, eine etwas verquere Liebeserklärung an die Hauptdarstellerin und damalige Godard-Gattin Anna Karina sowie als essayistischer Diskurs über das Verhältnis von Bild, Wort und Ton. Dies führt zu ganz ungewöhnlich aufgelösten Gesprächssituationen (minutenlang sieht man Hinterköpfe im Halbdunkel), Kapitelüberschriften, die wie Zwischentitel verwendet werden, und Dialogen, die zwischenzeitlich in Untertiteln wiedergegeben werden. Ein filmischer Essay, ebenso einfach wie kompliziert und um die Ecke gedacht – wie fast immer bei Godard. (OmU, 23./25. 8. Lichtblick)
LARS PENNING