: Nur mit Astronauten-Outfit?
■ Eine neue Untersuchung zeigt: Fahrradfahren ohne Helm ist für Kinder viel zu gefährlich - ein hochwertiger Kindersitz allein reicht nicht aus
An einem durchschnittlich verregneten Nachmittag mitten in der Woche herrscht in der Aufnahmestation des Altonaer Kinderkrankenhauses Gelassenheit. Erst gegen halb fünf Uhr bringt ein Lieferwagen eine Frau mit ihrer kleinen Tochter auf das Gelände. Die Mutter erzählt aufgeregt von einem „Unfall“ und daß sie mitsamt ihres Fahrrades umgefallen sei. Die Kleine sei hinten auf dem Sitz festgeschnallt gewesen.
Die erste Frage der Ärzte lautet: „Trug Ihre Tochter einen Helm?“ Ja, das 18 Monate alte Mädchen hatte offenbar unter lautstarkem Protest gerade seinen neuen Fahrradhelm ausprobieren müssen. Janina, die nun von zwei Medizinern untersucht wird, sieht zwar blaß, aber ansonsten ausgesprochen vergnügt aus. Zappelnd versucht sie, von der Untersuchungsliege herunterzuklettern.
Erst als die Kinderärzte übereinkommen, das Mädchen sei aufgrund des gutsitzenden Helms mit dem Schrecken und ein paar blauen Flecken davongekommen, läßt die Mutter sich auf einen Stuhl fallen. Gedankenverloren kratzt sie den angetrockneten Matsch von ihrer Hose und Janinas Anorak und erzählt: Sie habe nur auf einen Sprung zu ihrer Freundin fahren wollen. Janina habe einen Fahrradsitz, der die Wirbelsäule schützt und zusätzlich eine Kopfstütze hat. „Obwohl es mir eigentlich übertrieben vorkam, haben wir ihr obendrein einen Baby-Helm besorgt. Kann man denn sein Kind nur noch auf die Straße mitnehmen, wenn es vorher wie ein Astronaut zurechtgemacht wird, der ins Weltall startet?“
Ein aus einer Einfahrt kommender Autofahrer hatte Mutter und Kind auf dem Fahrrad übersehen, als er sich mit seiner Limousine in den Verkehr einfädeln wollte. Der Wagen streifte das Fahrrad zwar nur ganz leicht, brachte die beiden aber zu Fall. Der Fahrer eines Lieferwagens, der die Szene beobachtet hatte, fuhr die Radlerin mit ihrer schreienden Tochter sicherheitshalber gleich in die Klinik. „Ich war so vorsichtig - und es kracht trotzdem“, murmelt die völlig erschöpfte Frau, als sie sich auf den Weg nach Hause macht. Mit dem Autofahrer will sie sich jetzt zivilrechtlich einigen.
Wie aus einer im April veröffentlichten Studie hervorgeht, kann das Risiko schwerer Kopfverletzungen durch das Tragen eines Schutzhelms bei Kindern um 63 Prozent vermindert werden. Das Risiko, bewußtlos zu werden, sogar um 86 Prozent. Mannheimer Wissenschaftler haben 445 Kinder untersucht, die nach einem Fahrradunfall in ein Krankenhaus eingeliefert worden waren. 102 der Kinder hatten Kopfverletzungen, die mit Bewußtlosigkeit einhergingen. Mehr als die Hälfte der untersuchten Kinder hatte die Kontrolle über das Fahrrad verloren und war gestürzt, ohne daß ein anderes Fahrzeug beteiligt war. 31 der Kinder waren mit einem Fahrzeug kollidiert, was häufig zu Kopfverletzungen führte.
Alarmierende Ergebnisse, die zum Nach- und Umdenken animieren sollten. Denn während qualitativ hochwertige Fahrradsitze, die grundsätzlich hinten auf den Gepäckträger montiert werden müssen, für viele Eltern heute ebenso selbstverständlich sind wie technisch einwandfreie Kinderfahrräder, werden zahlreiche Kids nach wie vor ohne Helm in den Verkehr geschickt...
Paula Roosen
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