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Archiv-Artikel

Notizen einer Reise

„Verzweifelte Suche nach Antworten“: Als Scarlet begibt sich Tori Amos heute im CCH auf eine Erkundungsfahrt durch die Veränderungen ihrer eigenen und anderer US-amerikanischer Befindlichkeiten

Ist Amerika wirklich frei? Ist das gelebte Demokratie?Eine Sängerin mit Klärungsbedarf

von VOLKER PESCHEL

Als am 11. September 2001 Flugzeuge ins World Trade Center rasten, war die Pianistin und Songwriterin Tori Amos gerade in New York auf Tournee. „Es war, als würde ein ganzes Land seine Rolläden runterlassen“, beschreibt sie die Reaktion der Menschen, aber vor allem den Rückzug der Künstlerriege aus der Öffentlichkeit. Sie beschloss das Gegenteil zu tun, setzte ihre Tour zum damals aktuellen Album Strange Little Girls fort und suchte unterwegs nach Begegnungen: eine Sinnfindungsreise von der West- zur Ostküste auf der „verzweifelten Suche nach Antworten“.

Mit den gesammelten Eindrücken, mit Erzählungen ihres Cherokee-Großvaters und von Menschen on the road, zog sich die in L.A. Aufgewachsene schließlich in ihr Refugium nach Newquay an der kühlen Küste Cornwalls zurück. Und dort ließ sie ihre Notizen als Scarlet‘s Walk Realität annehmen, als Reise einer gleichnamigen Titelheldin durch ein arg verunsichertes Land. In der heimischen Umgebung des eigenen Studios – und ihrem Mann als Toningenieur sowie Tochter Natashya in Rufweite – spielte die Mary Poppins-Verehrerin 18 Songs ein, eigenhändig produziert und mit vertrauten Wegbegleitern wie Matt Chamberlain am Schlagzeug. Zehn Jahre nach ihrem Solodebüt Little Earthquake.

Das neue Album folgt der Titelfigur Scarlet, wie schon die Heldin in Vom Winde verweht hieß, auf ihrem Walk durch die Staaten, kramt in den Wurzeln des Landes, aber auch in akuten Befindlichkeiten, stellt Fragen: „Scarlet bin manchmal ich, manchmal ist sie jedoch nur ein kleiner Tropfen und dann wieder der ganze Ozean“, weiß Tori Amos: „Scarlet ist nur eine Einzelne von uns, sie stellt aber gleichermaßen uns alle dar.“

Was das heißt? Da ist zunächst Scarlets Begegnung mit Amber Waves, einem Pornostar aus dem Film Boogie Nights, die desillusioniert ist vom amerikanischen Traum von Ruhm. Scarlet reist weiter, merkt, dass sie mit einem Mann in L.A. nicht zusammenleben mag, ein weiterer wird ihr nicht vertrauen, ein dritter sie voll Depressionen an die Wurzeln der blutigen US-Historie führen. Scarlet wird in New Yorks Staub wühlen und letztlich ein Kind zur Welt bringen. Und nebenher viele Fragen aufwerfen: Ist Amerika wirklich frei? Ist das gelebte Demokratie? Oder ist Gier der einzige Antrieb? Der aktuelle Fragenkatalog der Myra Ellen Amos an ein Amerika mit Klärungsbedarf im Hier und Jetzt.

Und vielleicht eine gute Gelegenheit, die Dame noch einmal live zu erleben. Sie wird dieses Jahr 40 Jahre alt und gibt im Vorfeld Interpretationsbedürftiges von sich. Wird sie sich rar machen? „Ein Kind zu bekommen, brachte mich zu dem Punkt, an dem ich mir selbst sagte: Okay, jetzt ist jemand anderes dran, der Mittelpunkt deines Lebens zu sein. Ich bin lange genug denselben Weg wie Scarlet gegangen, doch nun ist es an der Zeit, mich um meine Tochter Natashya zu kümmern. Andere sollen die Fackel aufnehmen, sollen sie zu neuen Menschen und in weitere Gegenden tragen.“

Donnerstag, 20 Uhr, CCH 1