: Not im Jahr 2000
Die Geschäftsführerin des zur Caritas gehörenden Fachverbandes „IN VIA“, Sigrid Funke, über die tägliche Arbeit der Bahnhofsmission
Interview BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA
taz: Was hat die Bahnhofsmission von heute mit der von vor 100 Jahren gemeinsam?
Sigrid Funke: Die Bahnhofsmission hat sich der jeweiligen Bedürfnisse der Menschen angenommen und geht immer auf das aktuelle Hier und Jetzt ein.
Wie sieht das heutige Hier und Jetzt aus?
Es wird bestimmt von Menschen, die unterwegs sind, und von Menschen, die sich am Bahnhof aufhalten.
Aber Sie haben doch bestimmt viel mehr mit Bedürftigen als mit Reisenden zu tun.
Generell sind es wohnungslose Männer, jugendliche Stricher, Drogenabhängige, Behinderte, Alte und auch verwirrte Menschen aus Heimen – was man unter Randgruppen versteht. Unsere Hauptaufgabe ist es, innerhalb des sozialen Netzes zu vermitteln, und nicht, eine Suppenküche zu sein.
Wie sieht es mit Erfolgserlebnissen bei der Vermittlung aus?
Die gibt es, aber nicht so oft. Solche Menschen kommen dann und spenden was, obwohl sie nicht über Reichtümer verfügen.
Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, das auffangen zu müssen, was die Politik nicht leistet?
Ich muss schon sagen, dass uns die Politik auch unterstützt. Aber dass der Staat viele Aufgaben delegiert, die vorrangig seine wären, ist klar. Die Bahn stellt uns kostenlos Räume zur Verfügung und übernimmt die Energiekosten, damit Reisende, die Hilfe benötigen, diese bekommen.
Mit welchen Problemen kommen die klassischen Reisenden?
Das geht vom Knopfannähen für jemanden, der einen Vortrag halten muss, über Mütter, die ihre Kinder stillen und wickeln wollen, bis zu Gebrechlichen, die den Zug verpasst haben, oder Jugendlichen, für die die 17 Betten am Bahnhof Zoo für 20 Mark inklusive Frühstück erschwinglich sind.
Haben Sie noch mit Mädchenhandel zu tun, wie vor 100 Jahren?
Es ist heute noch ein Thema. Wir haben eine Beratungsstelle für Frauen, hauptsächlich aus Polen, die mit viel subtileren Methoden in die Prostitution geworben werden. Unser Wunsch wäre eine Zufluchtswohnung für diese Frauen. Was um die Jahrhundertwende reiche Bürgerfrauen taten, können wir heute nicht tun.
Weitere Wünsche?
Das Bewusstsein in der Bevölkerung stärker wach zu halten, nicht nur zu Jubiläen oder Weihnachten. Not gibt es an jedem Tag.
Wer ehrenamtlich in der Bahnhofsmission arbeiten oder spenden will: Tel.: 85 78 4-286 oder -222.
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