Normalzeit:
Freiwillige vor ■ Von Helmut Höge
Der Sozialstaat weicht zurück! Es ist klar, je mehr das soziale Netz zerfällt und die Staatsknete knapp wird, desto mehr gewinnt das kostenlose Engagement der Bürger für ihr Gemeinwesen – wie zu vorsozialstaatlichen Zeiten – an Bedeutung. Auch im Pionierland USA, wo die Schicksale der Gescheiterten stets eher auf persönliche Schuld zurückgeführt werden und das Fehlen einer organisierten Linken, die das Übel an seiner allgemeinen Wurzel ausrotten will, von rechts noch stets mit individueller Hilfe kompensiert wurde. Man bezeichnet dort das Freiwilligen-Engagement geradezu als „dritte“ Säule neben der privaten und der öffentlichen.
Auch hier hat sie bereits laute Propagandisten. Der ehemalige CDU-Sozialsenator Fink meint, wir bräuchten dringend eine „neue Kultur des Helfens“. Dies sagte er auf einer Veranstaltung im Roten Rathaus – des „Berliner Aktionsbündnisses für freiwilliges Engagement“, das aus dem „Ausbildungsgang Freiwilligen-Management“ in der „Akademie für Ehrenamtlichkeit“ des Fördervereins für Jugend und Sozialarbeit e.V. (Rungestraße 20) hervorgegangen ist. Der SPD-Politiker Böger verwies dort auf die brandneue Koalitionsvereinbarung, in der bereits von einer „Förderung bürgerschaftlichen Engagements“ die Rede ist, im Zusammenhang mit mehr Bügerbeteiligung und Stadtteilzentren. Die Grünen-Politikerin und FHS-Dozentin Metzner wünschte sich eine „Balance zwischen staatlicher Verantwortung und individueller Initiative“. Tatsächlich ist es schon vorgekommen, dass z. B. einem Sozialprojekt die Mittel gekürzt wurden – mit der Begründung, es würde ja jetzt von der „Berliner Tafel“ versorgt werden. Die Tafel-Gründerin Sabine Wirth saß ebenfalls auf dem Podium: Bisher konnte sie derartige behördliche Streichungen immer rückgängig machen. Das ungesicherte Bürgerengagement könne das professionelle nie ersetzen, meinte sie. Die Veranstaltung ging jedoch sowieso eher dahin, den Staat zur Förderung und Unterstützung auch noch der Freiwilligkeit zu veranlassen, d. h. wie immer: die „Rahmenbedingungen“ dafür zu verbessern. Daneben ging es aber auch um die Minimierung der Reibungsverluste – zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen etwa. Zumal immer wieder neue Hauptamtlichen-Felder aus ehrenamtlichem Engagement heraus entstünden. Ein Mitarbeiter der Tafel, Lothar, verwies auf seine gesamtgesellschaftliche Nützlichkeit: „Die Obdachlosen, Fixer usw. werden doch von uns ruhig gehalten, die würden sich doch sonst die Köppe einschlagen!“ Da wundert es nicht, dass die Tafel-Gründerin unlängst von der Stadt bereits einen Verdienstorden verliehen bekam. Stolz berichtete sie über die damit verbundene „Tragepflicht“. Der Sprecher des Kreuzberger Nachbarschaftsheims Urbanstraße, Hahn, wo die Hauptamtlichen von Ehrenamtlichen angestellt werden, meinte: Die soziale Stadtentwicklung sei ohne bürgerschaftliches Engagement nicht möglich. Dazu braucht dieses jedoch anscheinend ein „Qualitätsmanagement“. Zum einen, um seinen „Eigensinn“ zu stärken, und zum anderen, um den neuen sozialen Verwerfungen gewachsen zu sein. Die Akademie für Ehrenamtlichkeit wird vom Ministerium für Soziales, Jugend und Familie gefördert, sie bildete bereits 1.300 Menschen aus, nicht wenige haben über den Kurs „Freiwilligen-Management“ schon einen neuen Beruf – in Vereinen und Verbänden – gefunden. Grundsätzlich gilt, dass die ehrenamtliche Tätigkeit auch ein Mehr an Optionen für die eigene Biographie schafft. So dass also auch die Freiwilligeneinsätze von Arbeitslosen und Sozialknetebeziehern, für die sich u. a. Spiegel-Soziologen wie Beck stark machen, diesen helfen könnten, neue hauptamtliche Tätigkeiten zu finden – und sei es dadurch, dass ihr Selbstbewusstsein wächst. Als Beispiel für derart „gelebte Solidarität“ wurde noch einmal die Berliner Tafel herangezogen. Weil es schon 220 davon in Deutschland gibt, meinte ihre Gründerin: Wir stünden damit bereits „am Rande einer der größten sozialen Bewegungen in den Neunzigern“. Dies wäre in der Tat ein „vorsichtiger Paradigmenwechsel“, wie die FHS-Dozentin Werth das Kommende nannte.
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