: Nordseegifte angeblich nicht nachweisbar
■ Trotz Quecksilber im Elbfisch sieht der stellvertretende Leiter des Instituts für Meeresforschung Bremerhaven nach „rein wissenschaftlichen Grundsätzen“ keinen Anlaß zur Sorge / Institut will sich „auf Grundlagenforschung zurückziehen“
Aus Bremen Klaus Wolschner
Wissenschaft ist ein schweres Geschäft. Dies klarzumachen gelang am Montag dem stellvertretenden Leiter des Bremerhavener „Alfred–Wegener–Institus für Polar– und Meeresforschung“, Dr. Wolfgang Ernst. Seit 20 Jahren ist er in Sachen Meeresforschung in Bremerhaven als Chemiker wissenschaftlich tätig. Er berichtet der Landespresse gelegentlich über den Fortschritt der Wissenschaft in Sachen Nordseeverschmutzung. Von den 600 organischen Chemikalien, die heute als bekannt gelten, sind inzwischen 100 in der Nordssee nachgewiesen. Dies allerdings ist, so Dr. Ernst, kein Maßstab für die ökologische Belastung, sondern nur ein Beweis für die „gute Analytik“. Ob sich die Verschmutzung der Nordsee in den letzten Jahrzehnten verschlimmert hat, kann der Wissenschaftler infolgedessen nicht sagen - früher war sie zumindest nicht meßbar. Eines weiß die Fachwelt heute zumindest genau: „Akute Toxizi tät“ besteht nicht, d.h. Giftstoffe, die alles Leben in der Nordsee innerhalb von 24 Stunden abtöten würden, „gibt es überhaupt nicht“. Weitaus schwieriger gestaltet sich allerdings die Frage, ob die gemessenen geringen Werte toxischer Stoffe Schäden in den Organismen hervorrufen, wann also für die Nordsee von „chronischer Toxizität“ gesprochen werden kann. Denn die Auswirkungen der Schwermetalle und Kunst–Stoffe im Organismus seien bislang kaum untersucht. Auch über die Frage, ob die Fischkrankheiten von „naturbedingten Streßfaktoren“ oder von den durch Verschmutzung verursachten „Streßfaktoren“ herrühren, streiten die Wissenschaftler weiter. Kurz: Die Nordsee sei „im Prinzip sauber im Sinne der Höchstmengenverordnung“. Gegen den Fisch–Genuß aus der offenen Nordsee könnten „keinerlei Bedenken“ wissenschaftlich begründet werden. In den Mündungsgebieten der Flüsse Elbe, Weser und Ems allerdings lägen die Schadstoff–Werte nicht mehr unterhalb der Sicherheitsgrenze. Solchermaßen aufgeklärt, ga ben sich die Vertreter der Öffentlichkeit dennoch nicht beruhigt. Was ist „sauber im Sinner der Höchstmengenverordnung“? Dr. Ernst zeigte leichte Unsicherheiten: „Wir müssen überlegen, was das Wort sauber heißt.“ Sind die Höchstmengen vielleicht zu niedrig angesetzt? „Das kann ich jetzt nicht beurteilen“, sagt Dr. Ernst. Ob denn die Fische, die mit 300 Milligramm Quecksilber pro Kilo aus der Elbmündung kommen, noch eßbar seien? Das mußte Dr. Ernst eher bezweifeln. Ist es sicher, daß die sondermüllverdächtigen Schollen aus der Elbmündung nicht frei in der Nordsee herumschwimmen, vielleicht ganz woanders aufgefischt werden und zu uns auf den Tisch kommen? Dies konnte Dr. Ernst auch nicht garantiern. Immerhin, meinte er, wenn die Elb–Scholle dann in „sauberem“ Wasser weiterwachse, verringere sich die Gift–Konzentration. Wissenschaftliche Schlußfol gerungen lassen sich nicht von Emotionen leiten, da blieb Dr. Ernst grundsätzlich. Die Belastungen auf offener Nordsee seien „toxikologisch nicht relevant“. Schon vor zwei Jahren hatte er erklärt, auch die Dünnsäure–Verklappung in der Nordsee, die auf Beobachter einen Eindruck des Unzumutbaren mache, habe „biochemisch keine negativen Auswirkungen“. Die PCB–Gifte findet er hingegen „beunruhigend“, weil sie sich so schlecht abbauen würden. Noch seien sie aber nicht schädlich, das könne die Wissenschaft erst „in vielen Jahren“ sagen. Die Untersuchungen der Helgoländer Vogelwarte, nach denen kaum ein Vogel, der sich von Nordsee–Fischen ernährt, ohne die Spuren der Industrie– Gesellschaft im Bauch ist, kennt Dr. Ernst. Aber: „Man weiß nicht, was diese Stoffe bewirken.“ Immerhin, das Problem ist erkannt. Die Nordseeschutz–Konferenz der Anrainer–Staaten habe 1984 beschlossen, daß die „weitere Verschmutzung der Nordsee überhaupt nicht zur Debatte steht“. Die Presse–Beobachter der damaligen Konferenz hatten Mühe, sich daran zu erinnern. Auf Nachfrage bestätigte der Wissenschaftler, daß die Umweltminister „keine Maßnahmen“ beschlossen hatten. Die Ausweisung der Nordsee als „Sondergebiet“, die selbst von Bundesinnenminister Zimmermann unterstützt wurde, ist bis heute insbesondere von Großbritannien blockiert worden. Forderungen für die nächste Konferenz im Herbst, die in London stattfinden soll, haben die Wissenschaftler aus Bremerhaven nicht angemeldet. Sie wollen sich in Zukunft stärker „auf die Grundlagenforschung zurückziehen“, das Bremerhavener Institut hat die Nordsee hintangestellt und seinen Schwerpunkt in Richtung Polarforschung verschoben, erläuterte Dr. Ernst.
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