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Nochmal Boykott

Heute kam da so 'n total normaler Tüp mit Aktentasche und Halbbrille an mein' Kiosk und: „Einmal die TAZ bitte!“ Studienrat Arnold, der grade mal wieder eine von seine Springstunden an mein' Kiosk überbrückte, um hier, wie er immer sagt, „Milieu-Studien zu treiben“, fing gleich an zu motzen: „Ich denke, die taz soll boykottiert werden? War da nicht so eine Ini von einer Grünen-Abgeordneten?“ „Seit diesen Boykott-Aufruf ist dies Blatt der absolute Verkaufsrenner“, sag ich, „und ich glaub', das ist 'ne gezielte Äktschen von diese Zeitung, um sich aus den Pleitesumpf herauszureißen. Und diese Frau Lengsdorf oder Lambsfeld, die is vonne Chefredaktion bestochen worden, daß sie ihre Boykotthetze abläßt. Ist ja auch verdächtig, daß das Blatt so ein' Aufruf gegen sich selber abdruckt.“ „Und WARUM sollte die taz nicht gekauft werden?“ fragt nu Zahnarzt Dr. Raffler, der sich regelmäßig 'n paar Illus vonne letzte Woche für'n halben Preis bei mir holt, für sein Wartezimmer. „Die sollen einen Roman abgedruckt haben, der sämtliche Grenzen des guten Geschmacks überschreitet“, meldet sich nu Frau Hütlein, die sich immer vonne Schlagzeilen von meine Illus insperiern läßt für ihre Lürik. „Geschmacksgrenzen zu überschreiten ist doch heute absolut normal“, sagt Dr. Raffler. „Aber was zu weit geht, geht zu weit!“ wehrt sich nu Studienrat Arnold, „ich habe den Roman auch gelesen, und da werden mehrere Spitzenpolitiker, meist Herren von der SPD, die einen Bart tragen, rasiert und anschließend ermordet. Dabei leben die Herren alle noch.“ „Sie tragen Bärte wie alte Witze“, sagt nu Dr. Raffler, „aber ich finde, rasieren ohne anschließende Ermordung wäre viel schlimmer für sie gewesen, dann wäre nämlich rausgekommen, daß sich hinter den Bärten gar kein Gesicht verborgen hätte.“ „Aber um das vordergründige Rasieren und Ermorden geht es eigentlich gar nicht“, meint nu Herr Arnold, „das Beklemmende ist doch, daß der Leser dabei an Auschwitz oder an Bautzen oder an die Zwangspsychiatrisierung im Ostblock denken muß, wo den Opfern auch die Haare entfernt wurden...“ „DER LESER soll bei diesem Roman an so etwas denken?“ ruft jetzt Frau Hütlein, „das ist wohl eher das Problem der Boykott-Dame!“ „Sich über Verletzungen und Verstümmelungen lustig zu machen, das ist doch...“, will Herr Arnold wieder anfangen, aber da sagt Frau Hütlein: „Richtig! Wenn körperliche Verstümmelungen vorgeführt werden, ist das unästhetisch, geschieht es bei seelischen Verstümmelungen, ist es Kunst!“ Also, das hab ich gar nicht gewußt, daß ich 'n Kunstfriek bin, denn ich seh ja auch regelmäßig Frau Schreinemakers ihre Sendung.

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