■ Anthroposophie und Reifenwechsel: Nimm's als Prüfung
Was also, fragt mich der Redakteur dieser Seiten, machen Anthroposophen anders? Anders als wer? Normale Leute? Ob's die wohl noch gibt? Schließlich läßt sich kein normaler Mensch gern als solcher bezeichnen.
Trotzdem: Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Anthroposophen hier und normalen Leuten dort ist auf jeden Fall von Belang: Für normale Leute sind Anthroposophen ein suspektes Völkchen, das sich in handgestrickte Seide kleidet und von Frischkornbrei und esoterischen Erkenntnissen ernährt, während die Anthropposophen selbst nach einigen Jahren beständigen Unter-sich- Seins eigentlich kaum mehr wissen, wie normale Leute leben.
Das äußert sich natürlich vor allem in kleinen und alltäglichen Begebenheiten. Wenn zum Beispiel auf dem Weg zu einem wichtigen Termin das Auto „seinen Geist aufgibt“, dann wird ein Anthroposoph darin aller Wahrscheinlichkeit nach einen Wink des Schicksals oder einen Stolperstein in seinem Karma finden nach dem Motto: „Es soll eben nicht sein.“ Oder er kann sich, wenn er den Termin noch nicht aufgegeben hat und versucht ist, ungeduldig zu werden, einmal mehr sagen: „Nimm's als Übung!“ Während ein normaler Mensch meiner Vorstellung nach der Situation in eindeutigen Worten Ausdruck verleihen würde (zum Beispiel: „Scheißkarre, schon wieder verreckt!“), um derart gestärkt zur Tat zu schreiten, Reifenwechsel, Notrufsäule oder ähnliches.
Für den Anthroposophen wird alles zur Übung: Wasserschaden, Beziehungskrise, leerer Kühlschrank am Wochenende, Zahnarztbesuche etc. Es gibt ja nichts, rein gar nichts, was man nicht als Übung betrachten könnte. Daraus ergibt sich ein weiterer, wesentlicher Punkt: Anthroposophen haben nie Feierabend. Während normale Leute ein Bierchen zischen, die Füße hochlegen und durch die Kanäle zappen, können sie dem Strom des Lebens als Aufgabe niemals entgehen. Sie wissen, daß alles, was sie tun oder nicht tun, in irgendeiner Form karmische Auswirkungen hat, die kosmische Ausmaße annehmen können.
Entsprechend muß im Grunde jede Entscheidung vor einem Hintergrund allgemeiner Weltverantwortung und mit umfassendem Bewußtsein für sämtliche Zusammenhänge und möglichen Folgen getroffen werden. Das ist verdammt nochmal nicht leicht und kann natürlich dazu führen, daß es nie zum Reifenwechsel kommt.
Und es weist auf ein weiteres wichtiges Bestimmungsmerkmal hin: die sogenannte Eigentlich-Frage. In Gesprächen unter Anthroposophen ist kaum eine Wendung so oft zu hören wie die Frage: „Was ist denn eigentlich...?“. Und zwar nicht wie bei normalen Leuten, die vielleicht Dinge fragen würden wie „Was ist denn eigentlich los mit dir?“ – weit gefehlt! Es ist immer eine tiefgründige Frage, die nach Ursprung und Wesen der Dinge sucht: Was ist eigentlich Liebe, Kunst, eine Pflanze, der Regenbogen, das Gespräch, eine Türe, der Himmel, der Mensch. Oder auch: Was ist eigentlich ein Computer? Womit wir dann wieder beim Reifenwechsel wären.
Gefährlich sind die Anthroposophen aber nicht, und meistens sehen sie auch aus wie ganz normale Leute: Zwei Ohren, eine Nase, aufrechter Gang (sehr wichtig!). Allerdings verwenden sie manchmal Formulierungen, die auch von normalen Leuten gebraucht werden, für Dinge, von denen sie sich einen ganz eigenen Begriff machen (auch sehr wichtig!). Da kann es schon mal zu Verständigungsschwierigkeiten kommen. Wenn zum Beispiel jemand nach dem Urlaub sagt: „Ich lasse meinen Film entwickeln“, so könnte ihm durchaus geantwortet werden: „Das muß er doch aus sich selbst heraus tun.“ Unverfänglicher wäre wohl eine Wendung wie „der Film ist noch in der Entwicklung“. Ach ja, das sind wir doch alle. Tanja Randebrock
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