: Nie ohne Lektüre
Dierk Schmidt entdeckt die Historienmalerei als Mittel aktueller politischer Stellungnahme: „Geiseln“ in der GAK
Keine Sitzmöbel, nirgends. Was die Aufenthaltsdauer in der Gesellschaft für aktuelle Kunst (GAK) verkürzt und den Besuch zu einem unbequemen Akt der Rezeption macht. Denn präsentiert wird Kunst, die sich nicht im Vorübergehen vermittelt. Man braucht da schon ein Weilchen dahingehockten Nachdenkens. Wie in der aktuellen Ausstellung mit Werken des Berliners Dierk Schmidt. Riesig sind seine Bilder – im Format. Riesig ist der intellektuelle Kontext?
Erst mal gilt es die Lebensbedingungen des Künstlers zu bedauern. Auf eine Abdeckfolie aus dem Baumarkt malt Schmidt in popartig stilisierter Manier, wie er in den Neunzigern zum Broterwerb Waggons der Deutschen Bahn umspritzen musste. „McJob#1“ und „McJob#2“ heißen die Bilder.
Aber wir dürfen uns die Mitleidstränen getrost aus dem Gesicht wischen. Schmidt hat es ja geschafft. Mit seiner aktuellen Bilderserie „Geiseln“ (2001 - 2004) sei er in den Rang eines „ganz heißen documenta-Kandidaten aufgestiegen“, heißt es in der GAK. Warum? Tja, um das zu verstehen, müssten die 22 ausliegenden Seiten an Infomaterial durchgearbeitet werden. Aktuelle Kunst – oder: so viel Überbau war nie. Lesen!
Schmidt beruft sich, so vermittelt die Lektüre, auf die Historienmalerei, ein Genre des 19. Jahrhunderts, das geschichtlich relevante Ereignisse darstellte, um sie im Bewusstsein der Kunstbetrachter lebendig zu halten. Damals mussten Auftragskünstler die Taten der Herrscher glorifizieren. Heute brandmarkt Schmidt die Politik als menschenverachtend.
Sein Beispiel: Dezember 2001 sank vor Australien ein mit 418 Asylsuchenden aus dem Nahen und Mittleren Osten beladenes Schiff, fast alle Passagiere ertranken. Soweit die Zeitungsnotiz. Als Hintergrundinformation fand Schmidt heraus: die indonesische Polizei habe von Australien Geld erhalten, um die Flüchtlinge auf das seeuntüchtige Schiff zu sperren, damit sie auf internationalem Gewässer versinken und weder in Indonesien noch in Australien einen Asylantrag stellen können. Ungeheuerliche Vorstellung. Die allerdings sofort für wahr nimmt, wer sich mit dem latenten Rassismus der Wählermehrheit, der erzkonservativen Regierung und mörderisch restriktiven Einwanderungspolitik Australiens beschäftigt. Statt ein Leitartikelpamphlet dagegen zu schreiben, dessen politisch-moralische Korrektheit jeder versteht, künstlert Schmidt eine Serie von Historienbildern, die man erst mal nicht versteht.
Da er aber Gericaults Bild „Floß der Medusa“ (1816) malt, wie es im Louvre hängt, darf dieses Werk wohl als Vorbild Schmidt‘scher Malerei angesehen werden. Es zeigt ein Floß voll todgeweihter Menschen des Dritten Standes, die von der Regierungsfregatte „Medusa“ ausgesetzt wurden, damit sich die Offiziere und Politiker von Bord an Land retten konnten. Gericault rückt also die Opfer ins Bild, nutzt Historienmalerei als Kritik an der Skrupellosigkeit der Macht. Schmidt eifert hinterher, malt Fragmente seiner Flüchtlingsschiff-Geschichte, zeigt mal Eindrücke vom Chaos an Bord, mal das Meer – und auch den australischen Einwanderungsminister. Die lückenhaften Rechercheergebnisse führen zu lückenhaften Recherchebilder – voll weißer Leerstellen. „Geiseln“ nennt Schmidt dieses Netzwerk von kunstgeschichtlich-ästhetischen und historischen Bezügen, in denen der Geist des Betrachters herumturnen kann, sofern er sich lesend schlau gelesen hat. Dierk Schmidts Kunst ist – neben der Politpropaganda – vor allem Nachdenken über Kunst: Selbstreflexion statt Selbstbehauptung. fis
bis 6.2. 2005, Di - So 11 bis 18 Uhr