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„Nichts von mir bemerken“

Eine Günther-Anders-Konferenz in Paris: Keine Huldigungen, sondern Erkundungen in unkartographiertes Gelände  ■ Von Michael Rohrwasser

Jahrgang 1902“. Die „angry old men“ werden in diesem Jahr 90 Jahre alt: Hans Sahl, Albert Drach, Günther Anders. Alle drei haben ihre Schwierigkeiten bei der Aufnahme in Literatur- und Philosophielexika, alle drei versperren sich der klassifizierenden Einordnung. Anders spielt souverän mit jenen Namen, die Kritiker ihm verleihen, wendet sich um und kehrt sie gegen ihre Namensgeber. Als Ketzer bezichtigt er seine Gegner der Abweichung und des Verrats, der „Deserteur“ Gescholtene bezeichnet seine akademischen Kollegen als Deserteure „ins Gebiet der Verantwortungslosigkeit“; nicht Störenfried sei er, sondern nur „Störenfried der Friedensstörer“, und nicht er sei der „blutige Laie“, sondern der andere der „blutige Experte“.

Anders philosophiert in aphoristischer Kürze, auch in Versen und Fabeln, er scheut vor Neujahrsansprachen nicht zurück und nennt sein philosophisches Hauptwerk, Die Antiquiertheit des Menschen eine „hybride Kreuzung von Metyphysik und Journalismus“. Er beherrscht die hohe Kunst des „Unterfliegens“: „Grundsätzlich halte ich mich so nah am Ackerboden der Realität, daß meine möglichen orthodoxen Observanten oder Verfolger, gleich ob rechte oder linke (die gewöhnt sind, nur solche Fremdobjekte zu orten, die sich in den höchsten Tönen der Abstraktion oder des Vokabulars aufhalten, und auch nur fähig sind, solche zu orten), nichts von mir bemerken. (...) Häufig habe ich drei Meter über ihren Radaranlagen geschwebt. Durch Unterfliegen habe ich sie überflogen.“ Er ist nie verlegen, das Fazit seiner Philosophie in einem Satz zu bündeln: „daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; daß wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können; und daß wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen“.

Das Verblüffende an der Anders- Lektüre ist, daß er, der stets zu wiederholen und zu übertreiben scheint, der sich „konservativ“ nennt, weil er „die Menschheit erhalten sehen will“, wie der Igel im Wettrennen immer schon da war — „da ich das Erdenrund ,zurückgelegt‘ habe, tauche ich nun hinter den Langsamen auf“. Ob es um Lyotards Theorie des Erhabenen geht — bei Anders finden wir sie als Theorie des Monströsen — oder um Zeitgeschichte: Eine Supermacht verschwindet, und was übrigbleibt, ist die Bombe — Anders hat dies bereits 1956 analysiert. Günther Schiwy stellte Anders auf der Konferenz denn auch in die Traditon der jüdischen Propheten. Immerhin schließt Anders aber die Neuauflage der Antiquiertheit des Menschen mit dem „leidenschaftlichen Wunsch“, daß „keine meiner Prognosen recht behalten werde“.

Die Anders-Konferenz am 6. und 7.Februar im österreichischen Kulturinstitut in Paris, die sich an die letztjährige Wiener Anders-Tagung anschließt — die zweite überhaupt also — macht auch deutlich, daß Anders immer noch kein „Universitätsphilosoph“ geworden ist (die meisten Teilnehmer waren Germanisten). Organisiert von dem österreichischen Germanisten Andreas Pfersman und Jacques Le Rider (Universität Vincennes) sind die meisten der Vorträge keineswegs hagiographische Huldigungen gewesen, sondern Auseinandersetzungen mit einem streitbarten Provokateur und Erkundungen in unkartographiertes Gelände. — Bemerkenswert, daß die Strukturen des Andersschen Denkens bereits in frühen Schriften des Autors (vor dem August 1945) zu finden sind, mithin die Reflexion über die Bombe eine Analyse verschärfte, die schon in ihren Ansätzen entwickelt war (nachzuprüfen in dem jetzt erscheinenden Exilroman Anders‘, Die molussische Katakombe); bemerkenswert, daß man seine scharfzüngigen Analysen auch als Befund einer „negativen Utopie“ zu lesen vermag, da die dogmatischen Züge seiner Kulturkritik unterstrichen wurden und schließlich seine Arbeiten zu Beckett, Brecht und Kafka endlich gewürdigt wurden. Nachzulesen sind alle Vorträge Ende des Jahres in einer Nummer der Zeitschrift 'Austriaca‘. An der Andersschen Provokation geschult war das Referat von Konrad Paul Liessmann, der sich „liebevoll wie ein Kannibale“ die Verdrängungslust der Linken vornahm.

Siehe Auszug unten

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