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„New Deal“ und die Viertagewoche

■ Frankreichs Sozialisten auf ihrem ersten Kongreß nach der Wahlschlappe

Paris (taz) – Frankreichs Sozialisten in der Zwickmühle: „Ihr“ Präsident, der Sozialist François Mitterrand, arrangiert sich hervorragend mit dem rechten Regierungschef Edouard Balladur. Wie können sie die konservative Politik angreifen, ohne den Parteigründer zu treffen? Bei der geplanten Asylrechtsänderung führte das Dilemma die PS zu peinlichen Widersprüchen. Die Bandbreite ihrer Kommentare reichte von „nicht tolerierbar“ bis hin zu einem „zufriedenstellenden Kompromiß“. Erst nach Wochen rang sich die Parteispitze zur Emanzipation durch: Die sozialistischen Abgeordneten wollen nun gegen die Reform stimmen, die Mitterrand dem Parlament vorlegen wird. Als wolle sie sich für soviel Rebellion entschuldigen, bescheinigt die PS dem Präsidenten, daß er im Tauziehen ums Asylrecht „die größte Gefahr durch sein entschiedenes Eingreifen beseitigt“ habe.

Im Eiertanz der Oppositionspartei eine Linie zu erkennen, ist nicht einfach. Auf ihrem heute in Le Bourget beginnenden dreitägigen Kongreß will die PS beweisen, daß sie doch noch Politik macht. Der Kongreß soll die zweite von drei Etappen auf dem Weg zur Erneuerung der PS und der gesamten Linken sein. Bislang versuchten die Sozialisten, ihre Wahlschlappe vom März zu verdauen, als nur 52 von zuvor 253 Abgeordneten ihr Mandat behaupten konnten. So besann sich die Partei darauf, daß sie auch eine Basis besitzt. Diese wurde um Kritik und Vorschläge gebeten. Bei den „Generalständen“ Anfang Juli in Lyon zogen die Sozialisten eine kritische Bilanz der Regierungsjahre, rechneten mit „arroganten“ Parteibonzen ab und verlangten eine Rückkehr zu den „Werten der Linken“.

„Wir haben uns verändert“, so die Botschaft der Partei. An diesem Wochenende will sie als zweites Signal hinzufügen: „Wir haben neue Ideen.“ Der Kongreß wird ein Programm verabschieden, das zu Gesprächen mit allen Gruppen der „sozialen Veränderung“ führen soll. Gemeint sind die Umweltparteien, die Reformkommunisten, humanitäre Gruppen und alle anderen, die zur Diskussion großer gesellschaftlicher Themen bereit sind. Diese Gespräche sollen Ende 1994 in ein gemeinsames Wahlprogramm münden und der PS Koalitionspartner für die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 1995 verschaffen. Auf diese Weise soll die Idee des Big Bang realisiert werden, des „Urknalls zur Erneuerung der Linken“, den Interims- Parteichef Michel Rocard im Februar im Wahlkampf angekündigt hatte. Danach, so der Rocard-Vertraute Jean-Paul Huchon, könnte die PS auch den Namen wechseln.

Michel Rocard will die Partei attraktiv machen

Mit zwei Ideen will Rocard die PS wieder attraktiv machen. „Jeder hat ein Recht auf eine Aktivität“, erklärte er zu der größten Sorge der Franzosen, deshalb „ist die massive Arbeitszeitverkürzung unmittelbare Priorität.“ Der Einstieg in die Viertagewoche soll die Lebensbedingungen verändern und Arbeitsplätze schaffen. Das zweite Projekt rankt sich um einen europäischen New Deal: „Europa muß zum Motor gemacht werden im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“, fordert Rocard. Deshalb schlägt er vor, das Wachstum innerhalb der EG in den kommenden zwei Jahren über eine große europäische Anleihe von mindestens 50 Milliarden Ecu (ca 100 Milliarden Mark) zu stimulieren. Damit sollen die Infrastruktur verbessert, die Vorstädte saniert und Umweltschutzmaßnahmen finanziert werden.

In Vorabstimmungen wurde der Antrag von einer großen Mehrheit der PS-Mitglieder unterstützt. Zwei Gegenanträge von traditionellen Rocard-Gegnern und alten Mitterrand-Freunden haben keine Chance. Somit steht jetzt schon fest, daß Rocard morgen zum neuen Parteichef gewählt wird, der die PS drei Jahre lang führen soll. Mit dieser neuen Legitimation – die auch den Verlust des Abgeordnetenmandats im März wettmachen soll – will Rocard 1995 als Kandidat der Linken in den Wahlkampf um das Präsidentenamt ziehen. Bettina Kaps

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