: Neugeburt oder Exitusverwaltung
Antje Vollmer und Joschka Fischer fordern nach Wahldebakel völlige Neuformierung der Grünen — Jutta Ditfurth wertete die gemeinsamen Vorschläge von Fischer und Vollmer als „Kampfansage“ ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski
Weitreichende Veränderungen in der Parteistruktur als Konsequenz aus dem Wahlfiasko haben Joschka Fischer und Antje Vollmer in Bonn gefordert. Die Parteimehrheit, deren Politik Fischer für das Debakel verantwortlich macht, müsse sich entscheiden, ob sie einen Neubeginn wolle oder eine „Exitusverwaltung“, sagte der Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag und Realo- Sprecher. Ohne eine „Einsichtfähigkeit“ werde die Partei im kommenden Frühjahr „auseinanderlaufen“ und „viele das Handtuch werfen“. Fischer betonte, er sei nicht an einer Neuauflage der Flügelkämpfe interessiert, dazu „ist es zu spät“. Jetzt ginge es ums Überleben der Partei. Wenn er unterliege, werde er nicht mehr kämpfen, sondern Konsequenzen überlegen, kündigte Fischer an.
Antje Vollmer, Sprecherin des „Aufbruchs“, und Fischer fordern die Abschaffung der Rotation. Fischer nannte es „tödlich“ und den Wählern nicht zu vermitteln, daß die Partei Persönlichkeiten wie Antje Vollmer oder Otto Schily ein Mandat verweigert habe. Dadurch sei die Partei „gesichtslos“ geworden. Aufgehoben werden soll auch die Trennung von Parteiamt und parlamentarischem Mandat. Derzeit habe sich eine Doppelstruktur ohne einen Zwang zur Gemeinsamkeit entwickelt. Der Bundesvorstand müsse außerdem eine „klare Vorsitzendenstruktur“ erhalten. Der Vorsitzende soll ein Vorschlagrecht für den Bundesgeschäftsführer bekommen, der dann von den Parteitagsdelegierten gewählt werden soll. Nach dem Wegfall der Bundestagsfraktion als Aushängeschild der Partei sei auch ein „völliger Neuanfang“ der Bundesgeschäftsstelle notwendig. Hinter diesen Forderungen verbirgt sich die Ansicht der realpolitischen Kräfte, die Bundesgeschäftsstelle sei fest in der Hand der Parteilinken.
Der Bundeshauptausschuß, höchstes Gremium zwischen den Parteitagen, soll zum erweitereten Bundesvorstand werden. Das Gremium wird derzeit von der Linken dominiert und hat keinerlei Anbindung an die Landesvorstände. Nach Fischers Vorstellungen soll der BHA als erweiterter Bundesvorstand mit direkter Beteiligung der Landesvorstände fungieren. Auch Vertreter der linken Intelligenz sollten darin einen Platz haben. Die Bundesarbeitsgemeinschaften, die Fischer als „unlegitimierte Strömungszirkel“ bezeichnete, sollen verschwinden. Antje Vollmer machte der Partei den Vorwurf, „linkskonservativ bis in die Knochen“ zu sein. Die Grünen habe die Ökologie nicht entschieden genug betont, sich der DDR-Bürgerrechtsbewegung zu zaghaft zugewandt und die notwendige Strukturreform verzögert. Eine Neugeburt der Grünen setzte nach Ansicht der Aufbruch- Sprecherin auch eine Eintrittswelle von ehemaligen Sympatisanten voraus. Ohne ein solches Zeichen werde es keine „sinnentleerte Tapferkeit“ geben, sagte Frau Vollmer, die zugleich eine Urabstimmung über das Bündnis mit der Bürgerbewegung ankündigte.
Der hessische Fraktionsvorsitzende sieht gute Chancen, bei den im Januar anstehendenen Landtagswahlen zu einer rot-grünen Mehrheit zu kommen. Diese werde erfolgsorientiert sein; Berliner Erfahrungen hätten die Hessen-Grünen bereits 1987 gemacht, an einer Wiederholung bestehe kein Interesse. Fischer äußerte die Erwartung, ein Erfolg in Hessen könnte die Trendwende für einen Neubeginn auf Bundesebene darstellen. Die Partei müsse sich sowohl entideologisieren als auch „Integrationskultur lernen“. Zu einer möglichen Kandidatur als Parteivorsitzende wollten sich Vollmer und Fischer nicht äußern.
Die „Radikalökologin“ Jutta Ditfurth wertete die gemeinsamen Vorschläge von Fischer und Vollmer — die sie als „Totengräber der Grünen“ bezeichnete — als „Kampfansage“ um die Zukunft der Partei. Joschka Fischer habe die „Maske fallengelassen“. Die von ihnen skizzierte Partei werde keinerlei Bezug mehr zur den Oppositionsbewegungen der Bundesrepublik besitzen und nichts mehr mit den jetzigen Grünen gemein haben, sagte Jutta Ditfurth. Sie sprach von „ökologischer FDP“.
Siehe auch Seite 6
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