Neues Medikament gegen Hepatitis C: Der Wert des Lebens
Das Arzneimittel Sovaldi kann Leben retten. 700 Euro kostet eine Pille. Die Krankenkassen halten es für zu teuer. Wer bestimmt, was angemessen ist?
BERLIN taz | 700 Euro für eine einzige Pille, in Worten: siebenhundert. Das ist der Preis, den das US-Pharmaunternehmen Gilead in Deutschland derzeit für sein neues, von der Ärzteschaft als Durchbruch gepriesenes Medikament Sovaldi zur Behandlung von Hepatitis C verlangt. Aus Sicht der Krankenkassen eine Provokation: „Das Mittel ist erst seit Ende Januar auf dem Markt. Bis heute sind den Kassen aber schon Ausgaben von 120 Millionen Euro entstanden“, klagt eine Sprecherin des Kassenspitzenverbands.
Einmal täglich muss die Pille geschluckt werden; die durchschnittlichen Therapiekosten betragen zwischen 60.000 und 120.000 Euro – pro Patient, schimpfen die Kassen. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts leben in Deutschland rund 300.000 Menschen mit dem Hepatitis-C-Virus, ein Viertel der chronisch Infizierten entwickelt im Laufe des Lebens schwere Lebererkrankungen wie Zirrhose, Fibrose oder Krebs. Was, wenn sie alle mit Sovaldi behandelt werden wollen?
Aktuell, das haben die Kassen ausgerechnet, hat Sovaldi es bereits auf Platz drei der umsatzstärksten Arzneimittel geschafft – nach den Rheumamitteln Humira (AbbVie) und Enbrel (Pfizer). „Die Politik muss diese Wucherpreise unterbinden“, fordert der Verband der Ersatzkassen. „Das Solidarsystem der Versichertengemeinschaft stößt an seine Grenzen“, warnt die AOK.
Die Sorge ist nicht unberechtigt. Das deutsche Gesetz sieht vor: Jeder Versicherte muss das Medikament zu Lasten der Kasse bekommen, wenn seine Krankheit zu denen zählt, für das das Medikament zugelassen ist, und wenn ein Arzt es ihm verordnet. Die Kassen in Deutschland können also nicht sagen, dass sie Sovaldi beispielsweise nur für die Gruppe der Hepatitis-C-Patienten im fortgeschrittenen Krankheitsstadium bezahlen, wie das etwa die Schweiz gerade beschlossen hat.
Die Krankheit: Hepatitis C ist eine Leberentzündung, die durch das Hepatitis-C-Virus verursacht wird. Die akute Infektion führt selten zu Symptomen und heilt in 20 Prozent der Fälle in den ersten sechs Monaten von selbst. Meistens wird die Infektion jedoch chronisch (80 Prozent) und bleibt dauerhaft im Körper. Spätfolgen sind Zirrhose und Leberkrebs. Im Gegensatz zu den Hepatitis-A- und Hepatitis-B-Viren gibt es gegen Hepatitis C keine Impfung.
Die Übertragung: Sie erfolgt über infiziertes Blut, wenn dieses in Blutbahn oder Schleimhäute eindringt. Häufige Infektionsquellen waren vor 1991 infizierte Blutprodukte. Heute gehören verschmutzte Nadeln zu den häufigsten Übertragungswegen. Eine Übertragung durch Sex ist selten, aber möglich. (hh)
Dazu kommt: Ebenfalls laut Gesetz dürfen Hersteller im ersten Jahr nach der Marktzulassung den Preis für ihr Medikament in Deutschland selbst bestimmen; 700 Euro pro Pille sind derzeit also ganz legal. Erst ab dem 13. Monat nach Einführung gilt ein Erstattungspreis, den Kassen und Hersteller bis dahin ausgehandelt haben sollen; notfalls entscheidet eine Schiedsstelle. Die Verhandlungen zwischen dem Hersteller Gilead und den Kassen über den künftigen Preis für Sovaldi beginnen am heutigen Montag in Berlin.
Wie viel darf ein Medikament kosten?
Doch die Debatte, die Deutschlands Sozialpolitiker im Zusammenhang mit Sovaldi in den kommenden Monaten beschäftigten dürfte, geht weit über den Einzelfall hinaus. Das Gerechtigkeitsempfinden ist tangiert: Wie viel darf ein Medikament kosten? Welche Kriterien sollen seinen Wert bestimmen? Muss angesichts steigender Ausgaben erwogen werden, bestimmte Therapien künftig zu limitieren oder sie nur noch ausgewählten Patientengruppen zuzugestehen? Und wer soll diese Entscheidungen treffen?
Wie schwer diese Fragen zu beantworten sind, zeigt das Beispiel Sovaldi. Denn ganz so schwarz-weiß, wie die Kassen das Bild zu zeichnen versuchen – hier der gierige Pharmahersteller, dort die überforderten Sozialsysteme – stellt sich die Situation nicht dar. „Sovaldi ist nicht überteuert“, sagt Johannes Kandlbinder.
Kandlbinder ist Director Market Access von Gilead Deutschland und ab Montag der Verhandlungsführer für das Pharmaunternehmen in Berlin. Wenn man nicht den Preis pro Tablette, sondern den Preis pro Heilung betrachte, sagt Kandlbinder, „dann sind die Kosten, die den Kassen durch Sovaldi entstehen, identisch mit denen bisheriger Therapien“.
Tatsächlich, das berichten internationale Hepatitis-C-Experten wie Michael Manns und Stefan Zeuzem, Direktoren der Kliniken für Innere Medizin an den Universitäten Hannover und Frankfurt, ist die Behandlungsdauer dank Sovaldi mit 12 bis 24 Wochen kürzer als mit herkömmlichen Therapien (bis zu 72 Wochen). Sowohl Manns als auch Zeuzem waren als Ärzte an der klinischen Erprobung von Sovaldi beteiligt, mehrere hundert Patienten wurden weltweit, in Deutschland unter ihrer Aufsicht, mit Sovaldi behandelt.
Ihr Fazit entspricht den Studienergebnissen, die Gilead den Prüfbehörden vorlegte: Sovaldi hat weitaus geringere Nebenwirkungen als die bisherigen Therapien mit Interferon, die Heilungsrate ist mit 90 Prozent höher als die herkömmlicher Mittel (je nach Virustyp 60 bis 80 Prozent).
„Als Junkies und Alkoholiker fehlgedeutet“
„Ginge es um ein Krebsmittel, es gäbe kaum öffentlichen Protest gegen diesen in der Tat sehr hohen Preis“, meint Michael Manns. Leberkranke dagegen hätten keine Lobby. „Unsere Patienten werden als Junkies und Alkoholiker fehlgedeutet“, sagt er, und dann heiße es schnell: „So viel Geld ausgeben – für die?!“
Der Gemeinsame Bundesausschuss, das Gremium im deutschen Gesundheitswesen, das darüber entscheidet, welche Behandlungen von den gesetzlichen Kassen erstattet werden müssen, attestierte Sovaldi Mitte Juli im Rahmen seiner „Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen“ einen „beträchtlichen Zusatznutzen“. Damit gibt es kein Zurück mehr: Die Krankenkassen müssen das Mittel bezahlen, wenn Ärzte es verordnen. Bleibt die Frage, welcher Preis angemessen ist, um diesen „beträchtlichen Zusatznutzen“ abzubilden.
„Ärzte sind nicht in die Preisgestaltung von Medikamenten eingebunden“, sagt der Frankfurter Klinikchef Stefan Zeuzem. „Aber man sollte bedenken, dass viele Patienten mit Hepatitis C, die wir herkömmlich therapiert haben, schwerste Nebenwirkungen erlitten und trotzdem schlussendlich nicht geheilt werden konnten.“ Diese Patienten hätten wieder und wieder behandelt werden müssen.
Es gebe Studien aus den USA, sagt Zeuzem, die zeigten, „dass bisherige Therapien aufgrund des Managements von Nebenwirkungen der früheren Medikamente bis zu 200.000 Dollar kosteten“. Sind Zirrhose oder Karzinome erst einmal da, hilft oft nur noch eine Lebertransplantation, lebenslange Immunsuppression inklusive. „Bei Sovaldi aber sprechen wir von Heilung“, Zeuzem ruft es fast, „wir geben das Medikament zwölf Wochen lang, und dann ist die Krankheit weg.“
Wäre es also fairer, zunächst ein Therapieziel zu definieren und anschließend zu schauen, wie viel es kostet, es zu erreichen, statt sich über den Preis einer einzelnen Pille zu ereifern? Andreas Gerber-Grote, Ressortleiter Gesundheitsökonomie am Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln, plädiert dafür, jedes Arzneimittel einer so genannten Kosten-Nutzen-Bewertung zu unterziehen.
„Das Ziel ist Transparenz“
In der Praxis hieße das: Für jedes neue Medikament würden die Kosten analysiert, die während seiner Entwicklung entstanden sind, also etwa die Ausgaben für die wissenschaftliche Forschung, für das Patent, für die klinischen Studien an Menschen, egal ob erfolgreich oder fehlgeschlagen. Diese Kosten würden sodann in Beziehung gesetzt zu dem Nutzen, der Patienten durch das Medikament entsteht, also etwa einer Veränderung des Krankheitsgrads oder einer Verbesserung der Lebensqualität.
„Das Ziel ist, zunächst einmal Transparenz über Kosten und Nutzen herzustellen, bevor man sich Gedanken über den Preis macht“, sagt Gerber-Grote. Doch genau das ist schwieriger, als es scheint. Denn: Welche Kosten dürfen angerechnet werden? Im Fall von Sovaldi etwa stößt den Kassen besonders übel auf, dass Gilead auch jene Ausgaben als Entwicklungskosten deklariert, die das Unternehmen 2011 investierte, um die US-Firma Pharmasset aufzukaufen. Pharmasset hatte den Sovaldi-Wirkstoff Sofosbuvir ursprünglich entwickelt.
Als dann erste klinische Studien an sehr wenigen Patienten das Potenzial von Sofosbuvir erahnen ließen, ging der US-Gilead-Chef John Martin aufs Ganze: 11 Milliarden Dollar brachte er auf, um Mitbieter auszuschalten und das Patent für Sovaldi zu erwerben. Branchenkenner können sich nicht erinnern, dass je zuvor eine solche Summe geflossen wäre für einen einzelnen Wirkstoff, der damals nicht einmal die Marktzulassung hatte. „Eine solche Investition muss natürlich zurückgespielt werden in den Markt“, findet der Verhandlungsführer für Gilead Deutschland, Johannes Kandlbinder.
Heikel ist auch die Frage, wie der Nutzen für Patienten bewertet werden soll. Also: Was bedeuten etwa drei zusätzliche Lebensmonate dank einer neuen Arznei – umgerechnet in Euro und Cent? Und dürfte der Wert dieser zusätzlichen Lebenszeit variieren, abhängig davon, ob sie einem Teenager geschenkt wird oder einer 90-Jährigen? Bislang sind solche Diskussionen im deutschen Gesundheitssystem tabu.
In Großbritannien dagegen, wo Kosten-Nutzen-Bewertungen zum Alltagsgeschäft des National Institute of Clinical Excellence gehören, besteht gesellschaftlicher Konsens darüber, dass einem dazugewonnenen Lebensjahr durchaus ein Geldwert zugewiesen werden darf; derzeit liegt er bei etwa 25.000 Pfund. Therapien, die das Leben zu einem höheren Preis verlängern, werden nicht eingesetzt. „In der Praxis führt das dazu, dass viele wichtige Medikamente in Großbritannien nicht verfügbar sind“, warnt der Leberspezialist Stefan Zeuzem.
Auf die schweren Fälle beschränken
Dass Sovaldi die Diskussion über eine Einführung routinemäßiger Kosten-Nutzen-Bewertungen auch in Deutschland befeuern wird, ist möglich. Unterdessen erwägen die behandelnden Ärzte, sich angesichts der Kosten einer Sovaldi-Therapie zunächst auf die wirklich schweren Fälle zu beschränken. „Unser Schwerpunkt muss jetzt sein, dass wir vordringlich diejenigen behandeln, die eine fortschreitende Erkrankung haben“, sagt Michael Manns.
Möglicherweise wird sich die Kostendebatte aber auch anders regulieren: Nach Angaben des Verbands forschender Arzneimittelhersteller stehen zwei weitere Wirkstoffe zur Behandlung von Hepatitis C unmittelbar vor der Zulassung. „Auch diese Arzneimittel spielen in der Liga ’90 Prozent Heilungschancen‘ “, sagt ein Verbandssprecher. Die Konkurrenz könnte also dazu beitragen, dass die Preise ganz von allein sinken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann