Neues Buch von Helene Hegemann: Die Natur kriegt die Figuren klein
Der Sound von Helene Hegemann klingt in Nuancen anders als bisher: nach einer Autorin, die sich vom Getöse ihrer frühen Karriere emanzipiert hat.
Vieles beginnt im Wasser in Helene Hegemanns neuem Kurzgeschichtenband „Schlachtensee“. Und vieles wird im Wasser enden. In einem See in Brandenburg, am Nil, am Strand von Nordfrankreich. Oder in der Wolga, aus der eine junge Frau steigt und in Folge eine schmerzhafte Augenentzündung entwickelt, ein Leiden, als schwemme ihr Körper den ganzen Schmerz einer seltsamen Dreiecksaffäre nach draußen.
Immer wieder ist es Wasser, das Menschen reinigt, zu temporär glücklicheren Versionen ihrer selbst tauft, verletzt oder zermalmt. Manchmal ist Wasser auch einfach Kulisse; nur kein Schlachtensee weit und breit. Ausgerechnet der See im Süden von Berlin kommt nicht vor in den 15 Geschichten des Bandes.
Helene Hegemann: „Schlachtensee“.Kiepenheuer und Witsch,Köln 2022, 266 Seiten, 23 Euro
Helene Hegemann, 30 Jahre alt, sitzt in einem leeren französischen Restaurant in ihrer Heimatstadt und hat eine einfache Erklärung: Ein Großteil des Buchs sei eben am Schlachtensee entstanden, wo sie damals gewohnt habe. Eigentlich sollte der Band aber ganz anders heißen. Als Titel hatte sie zwei blaue Haken vorgesehen, das Symbol für die Lesebestätigung auf Whatsapp.
Die Häkchen haben es nun immerhin aufs Cover geschafft. Vielleicht praktischer so: Suchmaschinenfreundlich ist so ein Titel ja nicht. „Ich hätte es ganz gut gefunden, wenn der Titel schwer googelbar gewesen wäre“, sagt Hegemann, „weil er sich damit der Zugänglichkeit entzogen hätte und der Anforderung, möglichst schnell im Internet wiedergefunden zu werden.“
Wer sehr dringend möchte, kann so einen Wunsch als Kommentar zu Helene Hegemanns bisheriger Karriere lesen. Ihre Geschichte ist sattsam bekannt: Hegemann, Tochter des Volksbühnen-Dramaturgen Carl Hegemann und der früh verstorbenen Bühnenmalerin Brigitte Isemeyer, wurde 2010 mit ihrem Roman „Axolotl Roadkill“ berühmt, als literarische Sensation, an der sich die Welt erst blitzschnell festgeliebt und dann festgehasst hat – weil sich Hegemann für ihre Story über eine minderjährige Künstlertochter auf Selbstzerstörungskurs beim Roman „Strobo“ des Bloggers Airen bedient hatte. Die kurze Hoffnung, hier würde eine junge Frau ganz authentisch aus ihrem verkorksten Leben berichten, war hin. Plötzlich galt das Wunderkind als PR-Wunder aus der Berliner Kulturschickeria.
Ostentative Krassheit
Auf die Aufregung um „Axolotl Roadkill“ folgte der Roman „Jage zwei Tiger“, das Drittwerk „Bungalow“, kürzlich ein Essay über Patti Smith und Christoph Schlingensief in der Reihe „KiWi Musikbibliothek“. Lange schien das Feuilleton Hegemann stellen, überführen, auf den persönlichen Gehalt ihrer Fiktionen abklopfen zu wollen. Die abgeklärt klingenden Drogen- und Sexszenen in ihren Büchern, die ostentative Krassheit ihrer Sprache verleiteten viele dazu, möglichst krass mit ihr umzuspringen.
„Ich selbst bin natürlich alles andere als abgeklärt“, sagt Hegemann. Dann tut sie, was sie oft tut, in diesem Restaurantgespräch wie auch sonst: sich fragend einer Antwort nähern, nach der man eigentlich mehr Fragen hat als vorher. „Impliziert Abgeklärtheit denn etwas Negatives? Zynismus vielleicht, den ich immer versuche zu vermeiden.“
Als habe sie nun wirklich jede Lust daran verloren, von denkfaulen Lesern und Kritikern mit ihren Romanfiguren verwechselt zu werden, kokettiert Hegemann in „Schlachtensee“ noch nicht mal mehr mit vermeintlicher Authentizität. Das Personal wechselt konstant in den 15 Kurzgeschichten des Bandes, wenn auch manche Namen und Symbole immer wieder auftauchen.
Pfauen, Geier, Blässhühner
Von Ägypten bis Kalifornien geht die Reise, und ob der sehr speziellen Bilder, die Hegemann von allen Orten zeichnet, will man dann doch wissen, ob sie dort war, ob das alles also sehr schöne Studien oder sehr schöne Projektionen sind. „Im Hildesheim der Zukunft war ich nicht“, sagt Hegemann, wie sie vieles sagt: schnell und deutlich, ziemlich trocken, aber nicht unfreundlich, „in Russland auch nie, obwohl ich immer mal hinwollte. Das merkt man wahrscheinlich.“
Neben dem Wasser tauchen in fast allen Geschichten Vögel auf: mal ein Pfau, mal ein Geier oder ein Blässhuhn. Freie, zerbrechliche Geschöpfe, die oft entweder Blitzableiter für die kalte Wut der Figuren sind oder so liebevoll betrachtet werden, als seien sie ihre letzte Verbindung zum Natürlichen, vermeintlich Reinen und Unschuldigen. „Die Natur in Kontrast zu diesen zynischen, abgeklärten Leuten zu stellen, die kaum noch in Verbindung zu ihren eigenen Impulsen stehen, hat großen Spaß gemacht“, sagt Hegemann.
Die Natur ist es meist, die ihre Figuren am Ende kleinkriegt – oder es sind deren Körper, als Teil dieser Natur, die krank werden, ungeplant und überaus unpraktisch reagieren. „Als Reaktion auf die unberechenbaren seelischen Zustände kommt bei den Figuren ein unbezwingbares, ganz archaisches Körpergefühl auf“, sagt Hegemann. „Das ist eine Art psychosomatische Metapher: der Aufstand der Körper in einer durchautomatisierten Welt.“
Mit der Hand schreiben
Dass die Welt absolut kalkulierbar und geordnet ist, führe auf der anderen Seite zu einem immer größeren Chaos. Ihr Schreibprozess lief umgekehrt. Hegemann hatte sich vorgenommen, zwei Jahre mit der Hand alles aufzuschreiben, was ihr so „durch die Birne rauscht“. So ineffizient wie möglich zu sein.
„Es gab keine Bedingungen, außer, dass ich nicht gleich lesen durfte, was ich geschrieben habe, sondern erst ein paar Monate später“, sagt Hegemann. „Und kein Computer, nur mit der Hand. Ich wollte konsequent sämtliche Anforderungen an moderne Menschen unterlaufen. Das hätte mit einem Roman nicht geklappt.“
Als habe Hegemann dabei tiefer in sich hineingelauscht, klingt ihr Sound in Nuancen anders als bisher: nach einer Autorin, die sich vom Getöse ihrer frühen Karriere endgültig emanzipiert. Wie gehabt leben die Erzählungen von kleinen und großen Schockern (classic Hegemann: Träume, in denen Schokolade aus Muskelfleisch verkauft wird) und von ihrer Eigenheit, mitten im Satz eine Ausfahrt zu nehmen, die niemand erwartet hätte.
Friedhof der Plot-Twists
Hier stellt Maria, eine ihrer weiblichen Figuren, ihren Stalker als persönlichen Bediensteten an; da hat die kleine Schwester von Minute, einem jungen Mann in der ostdeutschen Provinz, mitten in der Nacht eine existenzielle Frage an ihren betrunkenen Bruder: „Was ist eine Städtepartnerschaft?“ Helene Hegemann weiß recht offensichtlich, dass sie so was hervorragend kann.
Am besten aber sind die Geschichten, wenn nicht alle Fährten ins Leere streben, hin zu Hegemanns großem, wunderbarem Friedhof der Plot-Twists und Textideen, sondern sich verdichten: zu fiebertraumhaften Sequenzen, in denen gerade absurde Bilder sehr menschliche Regungen perfekt erklären. In der Story „You have killed me and there is no point saying this again, but I forgive you, I forgive you“ sieht, träumt und wittert Minute überall Wildschweine, die Schutz- und Symboltiere seiner unmöglichen Liebe zu einem Mann.
„Das ist die einzige konsequent romantische Geschichte, in der es um Verliebtheit geht und das auch ausgesprochen wird“, sagt Hegemann. „Damit der Ausgleich stimmt, brauchte ich offenbar komplett entgegengesetztes Personal, die Romantik konnte nur in diesem maximal roughen Männerzusammenhang in der Nähe von Schnellroda stattfinden.“ Sie sagt, sie habe keine Angst vor Pathos, vor Kitsch aber schon, weil der ein großes Gefühl als Verkaufsargument missbrauche – und es dadurch entwerte. „Das ist aber natürlich auch ein bisschen schwach: den Kitsch durch die Umstände abmildern.“ Wie eben im Falle der harten Männerliebegeschichte.
Ein zarter Moment
Bislang hat man ihren Texten tatsächlich vorwerfen können, sich im Bestreben, Kitsch zu vermeiden, in ihren schwächsten Momenten selbst zu neutralisieren – durch den Überfluss an möglichst Sperrigem. Die Vögel, das Meer und die verletzlichen Körper tun den Geschichten gut. Sie bringen das Leben, das es als Abgleich zur Kälte der von Hegemann konstruierten Welt braucht, um wirklich gerührt von ihren Figuren zu sein.
Zum Beispiel, wenn eine Skifahrerin an die beste Sache denkt, die sie je gegessen hat: Vanillejoghurt mit zwei zerbröselten Zungentattoos, die ihr Boyfriend und sie sich im Wald an den Gaumen geklebt haben. Auf einem Sticker ein Lamm, auf dem anderen ein Gespenst. Es wäre ein lieber, zarter Moment – würde die Skifahrerin nicht unter einer Schneedecke liegen, mit einem Oberschenkelknochen, der senkrecht aus dem Schneeanzug schaut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste