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Neue Führung in Georgien

■ ZK der Sowjetrepublik wählt KGB-Mann zum Parteichef / Beerdigung in Tiflis Petition an Schewardnadse fordert Neuwahlen und Abzug der Armee

Moskau (dpa/afp) - Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Georgiens hat gestern das Rücktrittsgesuch von Parteichef Dschumber Patiaschwili angenommen und als seinen Nachfolger den bisherigen KGB-Chef der Republik, Giwi Gumbardis, gewählt. Darüber hinaus sind auch der Ministerpräsident Tschcheidse und der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der Kaukasus-Republik zurückgetreten. Patiaschwili hatte die Verantwortung für das Einschreiten der Armee gegen nationalistische Demonstrationen am letzten Wochenende in der georgischen Hauptstadt Tiflis übernommen. 19 Menschen waren getötet und über 200 verletzt worden.

Am Dienstag hatte der Erste Sekretär der KP Georgiens vor der Akademie der Wissenschaften in Tiflis im Beisein der beiden Angesandten des Moskauer Politbüros, Eduard Schewardnadse und Georgi Rasumowski, seine Bereitschaft erklärt, sein Amt niederzulegen. Außenminister Schewardnadse, der wegen der Ereignisse in seiner kaukasischen Heimatrepublik Georgien die für Sonntag und Montag geplanten Gespräche in Bonn abgesagt hatte, nahm gestern auch an dem ZK-Plenum teil.

In der Hauptstadt Tiflis wurden erst am Donnerstag nachmittag unter starker Anteilnahme der Bevölkerung das erste Opfer bestattet, die 43jährige Ärztin Sia Dschindscharadse. „Von Soldaten vor den Augen ihrer Tochter getötet, wurde sie auf dem Saburtalo-Friedhof nahe des Stadtzentrums im Beisein von 1.000 bis 1.500 Menschen beerdigt“, berichtete das unabhängige Moskauer Informationsbulletin 'Express-Chronika‘. Gestern sollten elf weitere Opfer beigesetzt werden; Ort und Zeit wurden aber nicht bekanntgemacht, um neue massenhafte Protestaktionen zu vermeiden. Moskau hatte offiziell erklärt, die georgische Parteiführung habe den Einsatz der Soldaten gegen die Demonstranten in der Nacht zum Sonntag in eigener Regie angeordnet, so Außenamtssprecher Gennadi Gerassimow am Donnerstag vor der Presse.

Der georgische Parteichef selbst hatte erklärt: „Ein General, der die Schlacht verloren hat, muß abtreten.“ Die Entscheidung, Soldaten zur Auflösung von Protestkundgebungen einzusetzen, auf denen der Austritt der Kaukasus-Republik Georgien aus der Union der Sowjetrepubliken gefordert wurde, war in den letzten Tagen von georgischen Intellektuellen gegenüber Schewardnadse bei mehreren Treffen scharf kritisiert worden. Patischawili hatte im georgischen Fernsehen die Verantwortung für diesen Schritt übernommen; dazu hieß es aber in Tiflis, der Erste Sekretär habe dabei von „gegebenen Zusicherungen“ gesprochen, „die Auflösung der Demonstration werde ohne Übergriffe erfolgen“.

Die Tageszeitung 'Stroitelnaja Gaseta‘ berichtete am Freitag, auf den Straßen von Tiflis werde seit Donnerstag massenhaft der Text einer acht Punkte umfassenden Petition verteilt, die am Mittwoch auch Schewardnadse bei einem Gespräch mit Filmschaffenden und Intellektuellen überreicht worden waren. Gefordert wird darin der Rücktritt der Regierung, eine Sondersitzung des Parlaments, vorgezogene Neuwahlen, der Abzug der Armee, die Freilassung der Festgenommenen (nach amtlichen Angaben sieben) und die Bestrafung der Verantwortlichen. Gerassimow charakterisierte diese Forderungen als „extremistisch“, lediglich die Bestrafung der Schuldigen könne „als annehmbar betrachtet werden“.

In einem Appell des Staatschefs an die Georgier, der dort am Mittwoch verbreitet worden war und der am Freitag im Parteiorgan 'Prawda‘ nachgedruckt worden ist, hatte Gorbatschow jede Kritik am Eingreifen der Armee vermieden, deren Intervention erfolgt sei, nachdem sich Versuche ereignet hätten, „Georgien von der UdSSR zu trennen und dort den Sozialismus zu liquidieren“. Gerassimow bezeichnete die Ereignisse von Tiflis vor der Auslandspresse als einen „Dolchstoß in den Rücken der Perestroika“. Die Vorfälle beschmutzten das Ansehen der UdSSR im Ausland.

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