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Neue Atombombentests auf Nowaja Semlja?

■ Die Gerüchteküche brodelt: Im September beginnt möglicherweise ein sowjetisches Testprogramm auf der Eismeerinsel / Der sowjetische Umweltminister dementiert nicht / Jodtabletten werden verteilt / Umweltgruppen bereiten Protestaktionen vor

Aus Kirkenes Reinhard Wolff

„Nach dem Auftritt des sowjetischen Umweltministers Sukolovskij steht für mich fest, daß die Sowjets nur noch auf die passenden Wettervoraussetzungen warten, sie wollen Flagge zeigen“: Frederic Hauge, Vorsitzender der norwegischen Umweltschutzgruppe „Bellona“, ist sich ganz sicher. Mit „Flagge zeigen“ sind Atombombenversuche auf der Eismeerinsel Nowaja Semlja, nur einige hundert Kilometer von Nordskandinavien entfernt, gemeint. Für den September stehen die ersten Sprengungen bevor. Gerüchte dieses Inhalts beunruhigen schon seit Wochen die Bevölkerung diesseits und jenseits der norwegisch-sowjetischen Grenze. Als „so gut wie bestätigt“ schätzt Hauge die Gerüchte nach einer norwegisch -sowjetischen Umweltkonferenz in der vergangenen Woche in Svanvik, bei Kirkenes in Sichtweite der gemeinsamen Grenze ein. „Unser Schiff, die 'Genius‘, wird daher in den nächsten Tagen von Kirkenes aus auslaufen, um vor Nowaja Semlja zu ankern.“ Welche Protestaktionen die Gruppe „Bellona“ genau plant, vor allem, ob auch versucht werden soll, an Land zu gehen, verrät Hauge nicht.

Valentin Sukolovskij, amtierender sowjetischer Umweltminister und Teilnehmer Umweltkonferenz in Svanvik, hatte peinlich darauf geachtet, nicht zu dementieren. „Ich kann nicht sagen, ob und wann Versuche geplant sind, dies ist allein Sache des Militärs“, lautete seine Standardantwort. Er habe Versicherungen seitens des Verteidigungsministeriums, daß solche Atombombensprengungen völlig ungefährlich seien. Außerdem solle man sich bitte auch an die USA wenden: „Wir stoppen, wenn die USA bereit sind, das gleiche zu tun.“

Die Pläne Moskaus, Nowaja Semlja zum Atomwaffentestgelände zu machen, sind seit Monaten bekannt. Auf der Urbevölkerungskonferenz im nordnorwegischen Tromsö in der zweiten Augustwoche verbreitete die Delegation des Nenets -Volks Informationen, denen zufolge die ersten Versuche unmittelbar bevorstünden. Die Nenets waren 1958 gezwungen worden, Nowaja Semlja zu verlassen, als die Insel schon einmal Atomwaffentestgelände geworden war. Sie wurden damals auf dem Festland im Gebiet von Archangelsk neu angesiedelt. Neue Versuche auf Nowaja Semlja würden die von ihnen erhoffte baldige Rückkehr auf ihre Heimatinsel wiederum zunichte machen.

Spätestens seit der Konferenz in Tromsö brodelt in Nordskandinavien die Gerüchteküche. Das finnische Außenministerium vereinbarte einen ständigen Informationsaustausch mit der Regierung in Oslo. Der norwegische Außenamtsstaatssekretär Knut Volebaek, der vorletzte Woche mit sowjetischen Regierungsvertretern in Moskau zusammentraf, teilte anschließend mit, die Gerüchte seien ihm gegenüber als unrichtig erklärt worden. Gleichzeitig begann die norwegische Regierung seltsamerweise aber damit, Bestände des zentralen Lagers an Jodtabletten von Oslo an Apotheken in der Nordprovinz Finnmark zu verteilen. Und ab Mitte August begannen auch die Gesundheitsbehörden im sowjetischen Eismeerhafen Murmansk mit der Jodtabelettenverteilung.

Eine eigene Theorie, warum die Sowjetunion ihre Atombombenversuche gerade jetzt so nahe an Skandinavien verlegt, hat der norwegische Greenpeace-Vorsitzende Björn Ökern: „Die Bewohner hier oben sollen als eine Art Geiseln mißbraucht werden, um die USA zu einem Stopp ihrer Versuche zu zwingen.“ Moskau wolle das Testprogramm als Druckmittel einsetzen, um mit Washington endlich zu einem Abkommen über einen völligen Stopp derartiger Versuche zu kommen. Greenpeace will deshalb auch doppelgleisig fahren: Neben einer neuen „Campingtour“ zu dem Versuchsgelände der USA in der Nevada-Wüste soll im September die „M/S Greenpeace“ Richtung Nowaja Semlja auslaufen.

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